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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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weg von den Autos, weg von den Menschen, den Hochhäusern, den Palmen, den flimmernden Versprechen, weiter, weiter auf dem Highway One, die Berge steiler, das Meer tiefer, unter uns jetzt.
    Am Ufer Seeelefanten, dumpf und grau und klobig, weit hinten im Blau die Segelboote, weiß und würdevoll wie Schwäne. Die Sonne hinter uns, die Sonne über uns, glühend und Funken sprühend, Beethoven jetzt, Beethoven im Radio, Freude, schöner Götterfunken, laute Paukenschläge, dunkle Geigen, leises Innehalten und daraus eine Flöte, die Kurven steiler, weiter, immer weiter, die Geigen schneller, die Berge zerklüftet, sturmzerzaust. Das Meer ein Ozean, keine Häuser mehr und keine Menschen. Die Geigen leise jetzt, ein kurzes Innehalten,die Aussicht atemberaubend. Santa Barbara, Goleta, Gaviota, eine Tankstelle, Tyger draußen, Tyger wieder im Auto, weiter, weiter, die Straßen schmaler jetzt, immer schmaler, immer kurviger, höher hinauf, fort von der Küste. Lompoc, Guadalupe, Oceano, ein letztes Mal der Ozean.
    Und dann nur noch Berge, San Luis Obispo, Atascadero, Templeton, Paso Robles. Meine Augen geschlossen, meine Hände auf der Brust. Nichts mehr sehen, nur noch fühlen. Das Ziehen in meinem Innern sanft, so wunderbar sanft, nur noch ein Flüstern, ein wissendes Wispern: Er wird da sein, ich werde bei ihm sein, ich werde ihn finden. Stille, endlich Stille jetzt.
    »Wir sind da«, sagte Tyger. »Weißt du, wo das Haus deines Vaters liegt?«
    Ich stieg aus dem Auto und ging auf den kleinen Aussichtspunkt zu, vor dem Tyger seinen Wagen geparkt hatte. Meine Beine, die ich die letzten fünf Stunden nicht bewegt hatte, fühlten sich steif und taub an, aber nun begannen sie zu prickeln. Und als ich hinab auf den See schaute, prickelte mein ganzer Körper.
    Ich erkannte alles wieder! Vielleicht lag es am Geruch, vielleicht an den Schatten, die die Eichen warfen, vielleicht an der Art, wie die Luft sich bewegte, jetzt, wo die Sonne tief über dem Drachensee stand. Wir mussten am oberen Ende, an der Brust des Sees sein. Ich erkannte die steilen Felsen, von denen Dad ins Wasser gesprungen war, und die vielen Buchten und die kleinen, von hohen Bäumen gesäumten Strände. Dann sah ich den Holzsteg. Seine rote Farbe trotzte der Dämmerung. Er lag links von uns, ungefähr einen halbe Meile entfernt in einer Biegung und führte wie ein langer Pfeil ins Wasser.
    Von hier aus wirkte er ganz klein. Ich drehte mich zu Tyger um, der jetzt auch aus dem Auto gestiegen war. »Es ist nicht das Haus meinesVaters«, sagte ich. »Es gehörte meinem Urgroßvater. Er hat seine letzten Jahre hier verbracht. Vielleicht ist er sogar hier gestorben. Mein Dad hat das Haus von ihm geerbt. Sie waren einmal zusammen angeln, daran kann sich mein Dad noch erinnern, und mein Urgroßvater hat ihm damals erklärt, dass es viele Arten des Tötens gibt. Das Angeln hielt er für eine ehrliche. Er sagte meinem Dad, es gäbe keinen Grund, sich dafür zu schämen.«
    Ich blickte hinüber zum Anleger. Mein Vater war damals in etwa so alt gewesen wie Val jetzt. Tyger war neben mich getreten.
    »Ich habe meinen Urgroßvater nie kennengelernt«, sagte ich. »Aber ich glaube, dass er sich für das, was er Ambrose Lovell angetan hat, schämte.«
    Tyger gab lange Zeit keine Antwort. Er stand nur da und starrte hinaus auf das Wasser. Alles war still. Nur die Oberfläche des Sees, der sich zwischen den grünen Hügeln und den Bäumen ausbreitete, kräuselte sich leicht.
    »Hier ist ein guter Ort, um zu sterben«, sagte Tyger schließlich. Er sah mich an. »Aber nicht für dich.« Auf den Lippen meines Lehrers erschien ein trauriges Lächeln, wie ich es noch nie an ihm gesehen hatte. »Geh jetzt. Ich warte hier, bis ich weiß, dass du in Sicherheit bist.«
    Dann drehte er sich um und stieg in sein Auto.
    Ich lief den schmalen Pfad hinab ans Ufer und weiter über den Sand durch das hohe Schilf. Ich war ganz ruhig, so ruhig wie jemand, der einschläft und in einen wunderschönen Traum gleitet.

DREIUNDDREISSIG
    Er war da.
    Lucian stand am Anleger, vor dem Haus meines Urgroßvaters.
    Er sah hinaus auf den See.
    Aber ich wusste, dass er mich fühlte.
    Und als ich den Anleger betrat, drehte er sich zu mir um.

VIERUNDDREISSIG
    Ich wusste nicht mehr, wie wir zum Haus gekommen waren, vielleicht hatte Lucian mich an der Hand geführt, vielleicht waren wir Seite an Seite über das weiche Gras gelaufen, jedenfalls waren wir hier und hielten uns im Arm. Die überdachte Veranda kam mir

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