Lucian
schwarzes Blau. Ich konnte nicht erkennen, wo die Pupillen aufhörten und wo die Iris anfing, und irgendwann wurde mir bewusst, dass ich ihn nicht stundenlang anstarren konnte, um es herauszufinden.
Ich räusperte mich. »Hast du . . . vor ein paar Tagen . . . Mittwochnacht . . . vor meinem Haus gestanden?«, brachte ich hervor.
Ein feines Zucken umspielte die Lippen des Jungen. Die Unterlippe war ein wenig voller als die Oberlippe, was seinem Gesicht etwas Trotziges gab.
»Ich glaub, ja«, erwiderte er mit seiner heiseren Stimme.
Ich schluckte. »Du glaubst? Was heißt das, du glaubst?«
»Ich wusste nicht, dass es dein Haus war.« Er verzog einen Mundwinkel zu einem Lächeln, sodass in seiner linken Wange ein Grübchen erschien.
»Aber was . . . was hast du da gemacht?« Dieser blöde Frosch in meinem Hals ließ sich einfach nicht runterschlucken.
»Ich weiß nicht genau. Was hast du gemacht?« Seine tiefblauen Augen ließen mich nicht los. Er schien mich auf dieselbe Weise wahrzunehmen wie ich ihn. »Warum hast du am Fenster gestanden?«
Das geht dich nichts an. Was willst du von mir? Was fällt dir ein, mir solche Fragen zu stellen? So etwas hätte ich antworten müssen.
Was ich sagte, war: »Ich hatte Angst.«
Der fremde Junge nickte ganz leicht und sehr langsam. Noch immer hatte er seinen Blick nicht von mir gelöst, nur sein Lächeln war mittlerweile verschwunden. »Dann hast du wohl die Luft gebraucht«, erwiderte er leise. »Und ich das Licht. Luft und Licht. Beides ist gut gegen Angst.«
Licht? »Bist du deshalb in den Lampenladen gekommen?«
Der Junge zuckte mit den Achseln. »Unter anderem.«
»Und warum noch?«
»Ich hab gehört, das Essen wäre gut.« Jetzt grinste er. »Wie geht es dem Glatzkopf im Anzug? Hat er seine Dattel wiedergefunden?«
Moment mal. Was sollte das denn werden? Wollte er mich verarschen?
»Nicht witzig«, fuhr ich ihn an, froh darüber, dass ich endlich wieder normal sprechen konnte. »Und du hast meine Frage nicht beantwortet. Was hattest du auf der Party zu suchen? Was machst du hier? Wenn du mich irgendwie verfolgst, dann – hey, pass doch auf!« Ich sprang zur Seite, als mich ein junger Mann anrempelte. Er balancierte einengigantischen Porzellantiger auf seinen Schultern, während seine Begleiterin (eine Blondine im Tigermantel) aufgeregt hinter ihm hertrippelte. »Hörst du, Robert, lass ihn bloß nicht fallen, sonst . . .«
Amüsiert sah der Junge den beiden hinterher. »Wenn ich mich nicht irre, ist das ein öffentlicher Ort«, wandte er sich wieder an mich und fügte in einem ironischen Unterton hinzu: »Ich könnte dich dasselbe fragen. Verfolgst du mich?« Forschend musterten mich seine Augen.
»Du spinnst doch!« Wütend funkelte ich den Jungen an. »Nein, natürlich nicht! Wer bist du überhaupt?«
Er fuhr sich durch das dunkle Haar. Plötzlich sah er verunsichert aus. Sein Gesicht bekam einen weichen, verletzlichen Ausdruck, als ob sich hinter seiner Fassade ein winziger Spalt geöffnet hätte. Nein – nicht sich . Ich hatte diesen Spalt geöffnet.
»Jetzt sag schon«, presste ich hervor. »Wie heißt du?«
Der Junge neigte seinen Kopf.
»Sag du’s mir.«
»Was?« Ich trat einen Schritt zurück. »Wie ich heiße?«
»Nein. Ich.«
Mein Herz setzte aus. »Hast du sie noch alle?«
Die Verkäuferin, vor deren Tisch wir immer noch standen, beugte sich besorgt zu mir herüber und fragte, ob alles in Ordnung wäre.
Ich nickte, dann traten wir beide einen Schritt zurück, in perfektem Einklang, als hätten wir eine Choreografie einstudiert.
Wieder musterte mich der Junge auf diese verstörende Weise. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als ob er etwas suchte. Etwas an oder neben mir. Ich konnte es nicht deuten. »Vergiss es. War nicht ernst gemeint«, sagte er.
War dieser Kerl geistesgestört? Auf Drogen? Oder vielleicht war auch ich gestört?
Der Blick des Jungen wanderte mein Gesicht entlang nach unten. Seinedunklen Brauen schoben sich zusammen, er sah erstaunt, mehr noch: erschrocken aus. Worauf starrte er denn jetzt? Hatte ich Ausschlag?
Seine nächste Frage brachte mich völlig aus der Fassung.
»Carpe diem?« Es klang wie eine Frage. Er streckte die Hand aus, als wollte er nach etwas an meinem Hals greifen, ich fühlte, wie seine Finger den Stoff meines Shirts streiften, ganz leicht nur, es war nicht wirklich eine Berührung, aber doch empfand ich es so.
Ich zuckte zurück.
»Was?« Instinktiv griff ich nach dem Anhänger, der an einer
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