Lucian
Selbstporträt.
Stirnrunzelnd sah ich Janne an.
»Für drei Euro gehört es Ihnen«, sagte sie zu unserer Kundin.
Die Frau blätterte ein wenig in dem Buch herum und legte es dann zur Seite. Während ihr Blick über die anderen Flohmarktartikel auf unserem Tisch wanderte, griff ich nach dem Band und studierte den Rückseitentext.
Gefürchtet, respektiert und von den wenigsten geliebt, erzähltWilliam Alec Reed, Englands wortmächtigster Literaturkritiker, die Geschichte seines Lebens und öffnet damit einen überraschenden Einblick in die Seele eines Menschen, der sich zu Lebzeiten den Titel »Der Mann mit der tödlichen Feder« erworben hat. Reed, gebürtiger Amerikaner und Freund einflussreicher Schriftsteller , begann seine Karriere bei der Los Angeles Daily Times. Weltberühmt wurde er allerdings als Kritiker bei der Londoner Times, deren Literaturredaktion er fast zwanzig Jahre leitete. Reed starb 1969 im Alter von fast neunzig Jahren in seiner Heimat Amerika.
William Alec Reed? Ich drehte das Buch noch einmal um und betrachtete das hagere Gesicht. Alec Reed war der Name meines Vaters. Mein Großvater, der letztes Jahr an einem Herzinfarkt gestorben war, hieß William Reed.
»War dieser Mann . . . ist er mit mir verwandt gewesen?«, flüsterte ich meiner Mutter mit einem Blick auf das Buch zu.
Sie nickte. »Er war dein Urgroßvater«, erklärte sie.
Ich starrte Janne an. »Tut mir leid«, verkündete ich, als die Frau ihre Hand wieder nach der Autobiografie ausstreckte. »Meine Mutter hat sich geirrt. Dieses Exemplar ist leider nicht verkäuflich.«
Die Frau verzog das Gesicht. »Auf diese Weise kommt ihr aber nicht zu Geld. Na dann, schönen Tag noch.«
Sie zog ab und ich warf Janne einen empörten Blick zu. »Das ist Familiengeschichte, Mam! Du hast mir nie erzählt, dass Dads Grandpa ein Buch geschrieben hat! Und jetzt willst du es einfach verkaufen?«
»Tut mir leid.« Janne hob abwehrend die Hände. »Ich wusste nicht, dass du dich für so was interessierst. Der Typ muss ein ziemlicher Tyrann gewesen sein. Grandpa Will hat mir mal von ihm erzählt. Er konnte ihn nicht ausstehen und dein Dad hat nie von ihm gesprochen. Er wäre bestimmt nicht böse, wenn wir das Ding verscherbeln. Aber wenn dir etwas daran liegt . . .«
»Tut es.« Ich klappte das Buch auf und blätterte im Anhang, in dem einige Kritiken abgedruckt waren, die meinen Urgroßvater so berühmt gemacht hatten. Ich hielt überrascht inne, als mein Blick an dem Namen Lovell hängen blieb. »Hey, das ist Tygers Lieblingsautor!« Ich grinste. »Das bring ich ihm morgen mit, bin gespannt, was er dazu sagt.«
»Vielleicht solltest du dir lieber vorher durchlesen, was dein Urgroßvater über den Mann geschrieben hat«, warnte mich Janne. »Ich glaube, der hat nur seine Lieblinge in den Himmel gelobt. Den Rest hat er in der Luft zerrissen. Nicht dass sich dein kleines Mitbringsel auf deine Englischnote auswirkt.«
»Stimmt.« Ich musste lachen, als ich die geringschätzigen Zeilen überflog, die mein Urgroßvater über Lovells Werke verfasst hatte. Der Rückseitentext hatte nicht übertrieben – tödliche Feder traf es ziemlich genau.
»Vielleicht schenke ich es Tyger zum Abschied, wenn ich mein Abi in der Tasche hab«, sagte ich und klappte das Buch zu. »Aber bis dahin bleibt es bei mir.«
Ich brachte den Band in meiner Tasche in Sicherheit, aß den Rest von meinem Donut und blies mir in die Hände. Die Halle war nicht besonders gut geheizt. Wenn wir den ganzen Tag hier saßen, würde es ganz schön ungemütlich werden.
»Was meinst du, was soll ich hierfür nehmen?« Janne hielt mir ein schmales Taschenbuch unter die Nase. Träume als Ausdruck innerer Themen stand auf nachtblauem Untergrund neben einem großen Vollmond. Die Autorin dieses Buches war Janne. Sie hatte es kurz nach ihrem Studium geschrieben und die Auflage hatte sich damals ziemlich gut verkauft. Aber seit einigen Jahren war es nicht mehr auf dem Markt, und soweit ich wusste, hatte Janne die letzten Exemplare an ihre Klienten verschenkt.
»Keine Ahnung«, murmelte ich. Über Träume nachzudenken war das Letzte, wozu ich Lust hatte. »Ganz schön kalt hier«, sagte ich. »Ich glaub, ich geh mir einen Kaffee holen. Willst du auch einen?«
»Lieber einen Tee. Und bleib nicht so lange weg, sonst verkaufe ich womöglich noch andere Dinge, die du lieber behalten willst. Bist du sicher, dass du keine Verwendung für die Käseglocke hast?«
»Böse Janne! Also, bis
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