Lucian
silbernen Kette um meinen Hals hing. Es war eine Sonne, ungefähr so groß wie ein Zweieurostück. Dad hatte mir diese Kette geschenkt, als ich sechs Jahre alt war. Zum ersten Schultag. Die Worte waren in das Innere der Sonne hineingraviert.
»Seize the day«, murmelte der Junge. »Nutze den Tag. Das heißt es doch, oder?«
Mein Mund war plötzlich trocken. Ja, das hieß es – und mittlerweile war dieser Spruch tausendmal als Werbeslogan verheizt worden. Aber für Dad und mich hatten diese Worte schon lange vorher eine besondere Bedeutung gehabt, und die Art, wie der Junge sie aussprach, klang auch nicht, als ob er sie aus irgendeinem Hochglanzmagazin kannte.
Er fixierte die Sonne an meinem Hals, als wollte er ein Loch in sie hineinbrennen.
Ich umschloss den Anhänger mit meiner Hand. »Was willst du von mir?«, flüsterte ich.
Der Junge blinzelte mit den Augen, mehrmals kurz hintereinander, und zum ersten Mal senkte er den Blick. Er biss sich auf die Unterlippe, als wüsste er nicht, ob er die Worte, die ihm auf der Zunge lagen, herauslassen sollte.
»Hey Becky!«
Ich zuckte zusammen und warf einen hastigen Blick über meine Schulter. Suse! Gott, ausgerechnet jetzt! Sie stand ungefähr zwanzig Meter von uns entfernt und winkte mit beiden Händen, bevor sie sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnte.
Ich achtete nicht weiter auf sie, sondern drehte mich wieder um.
Doch da war niemand mehr. Der Junge war spurlos verschwunden.
Einen Moment später war Suse bei mir und stierte mich an. »Was ist denn jetzt schon wieder los? Kriegst du gerade einen Herzinfarkt?« Sie zog mich am Ärmel, ich konnte gerade noch das Handbuch für Maskenbildner hinter meinem Rücken verstecken. Zum Glück fragte sie nicht nach dem Jungen, vielleicht hatte sie ihn gar nicht bemerkt. Und ich konnte jetzt unmöglich über ihn sprechen.
»Alles okay«, brachte ich irgendwie hervor und versuchte ein normales Gesicht aufzusetzen, obwohl ich wusste, dass Suse nicht darauf reinfallen würde. Aber gleich darauf wurde mir klar, warum meine beste Freundin mich nicht sofort mit ihren Fragen löcherte. »Becky, ich habe ein Da-hate«, sang sie. »Dimo will nächsten Samstag mit mir ins Ki-no. Er hat mir gesi-himst, glaubst du das? Hier.« Suse klappte ihr Handy auf und hielt es mir unter die Nase.
Ich starrte auf das Display. »Cool«, murmelte ich.
»Cool?« Suse ließ das Handy zuschnappen. »Das ist galaktisch, Becky. Die einzige Frage lautet jetzt, wie ich die nächsten Tage überstehe. Scheiße, kann nicht morgen Samstag sein? Oder jetzt gleich? Du musst mich ablenken. Geh mit mir zum Dom – ins Wachsfigurenkabinett. Zur Strandperle. In die Kirche. Zur plastischen Chirurgie. Irgendwohin. Am besten zum Shoppen. Ich brauche dringend neue Klamotten.«
Ich grinste schwach.
Suse trug eine türkis-braun gestreifte Cordhose mit Schlag und einen türkisen Wildlederponcho. An ihren Ohren baumelten zu Ohrringen umfunktionierte Schlüsselanhänger von Mägde und Knechte und über ihrer Schulter hing eine orangefarbene Felltasche mit einem Tresorschloss. Falls ihr Vorhaben, später als Maskenbildnerin zu arbeiten, scheitern sollte, würde Suse problemlos eine Anstellung als Stylistin bekommen.
»Hast du dich hier schon umgesehen?«, fragte sie, ohne meine Antwort abzuwarten. »Dahinten ist ein geiler Stand mit Secondhand-Zeugs und – hallöchen, wen haben wir denn da . . .?« Suse zeigte nach links. Mein Herz setzte für einen Sekundenbruchteil aus, aber als mein Blick ihrem ausgestreckten Arm folgte, stieß ich enttäuscht die Luft aus. Es war nur Sheila. Sie hockte mit Jenni und Paula aus unserer Klasse auf einem Stahlgeländer und war so aufgebrezelt, als gäbe es kein Morgen. Ganz besonders abartig war ihr fleischfarbener Pulli, dessen tiefen Ausschnitt Suse mal mit den Worten »Ich kann dein Herz sehen« kommentiert hatte.
Mit vorgehaltener Hand glotzte Sheila in unsere Richtung.
»Booook, boook, booook, ich hab ein Ei gelegt, booook, boook, boook, ich bin so aufgeregt«, quiekste Suse mit schriller Stimme und lachte, als die drei Grazien betont in die andere Richtung starrten.
»Komm, Becky, bloß weg von diesen Netzhautpeitschen.«
Wortlos ließ ich mich von meiner Freundin durch die Gänge schleifen. Ich war noch immer ziemlich verstört und das erste Mal in meinem Leben war ich Dimo für irgendetwas dankbar. Er lenkte Suse wenigstens so ab, dass sie nicht merkte, was mit mir los war.
Irgendwann kamen wir an einer Uhr vorbei
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