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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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und da fiel mir siedend heiß ein, dass Janne seit einer guten Stunde auf ihren Tee wartete.
    »Es wäre wirklich nicht nötig gewesen, den Tee in Indien zu kaufen«, sagte meine Mutter, als ich ihr schuldbewusst die Tasse auf den Tapeziertisch stellte. Das Wechselgeld in der Schale war beträchtlich geschrumpft und es sah aus, als hätte die Käseglocke einen neuen Besitzer gefunden.
    Janne legte ihre Hände um die Tasse und pustete in den Tee. »Hallo Suse«, begrüßte sie meine Freundin. »Na, wie steht der Haussegen? Ist der Zahlenhengst zurück aus Hannover?«
    Suse stöhnte. »Lass mich bloß mit dem in Ruhe. Der hat doch tatsächlich versucht, meiner Mutter einzureden, dass ich dafür einen Monat Hausarrest verdient hätte, als die ganze Sache aufgeflogen ist.«
    Janne grinste. »Das heißt, eure kleine Aktion war erfolgreich?«
    »Und wie.« Suse ließ sich auf meinen Stuhl fallen. »Der Vollidiot ist siebzehn Mal um die Tankstelle gelaufen, bis er gemerkt hat, dass irgendwas faul ist. Natürlich bin ich nicht ans Handy gegangen, als er angerufen hat, aber dann hat er’s leider auf dem Festnetz versucht. Was soll’s, auf jeden Fall hat er eine kleine Rundreise gemacht.« Suse kicherte. »Zum Glück hat meine Mutter ein so schlechtes Gewissen, was ihr Liebesleben betrifft, dass sie mir verziehen hat. Und? Wie sieht’s es bei euch aus? Schon was verkauft?«
    » Wir nicht – aber ich.« Janne zog ein paar Scheine aus ihrer Tasche und zeigte auf die Kleiderstange. »Zwei Lederjacken, den Trenchcoat von Spatz und dein altes Mörderdirndl, Rebecca – nur original mit Sicherheitsnadel.« Sie zwinkerte mir zu. »Ach ja, und: mein Traumbuch. Gerade hab ich das letzte Exemplar verschenkt.«
    »Verschenkt?«, fragte Suse.
    Janne zuckte mit den Achseln. »Der Typ wollte es unbedingt haben und er sah so aus, als hätte er keinen Cent in der Tasche, da hab ich es ihm gegeben.«
    Das war auch so eine Seite an meiner Mutter – ich kannte niemanden, der so großzügig war wie Janne, auch wenn sie nicht viel Aufhebens darum machte.
    »Kann ich Ihnen helfen?« Sie drehte sich zu einer älteren Dame um, die gerade den Zahnstocherigel in der Hand hielt.
    »Ein entzückendes Dingelchen«, gurrte die Frau. »Was möchten Sie dafür haben?«
    »Fünfzig Cent und der Igel gehört Ihnen«, sagte Janne fröhlich und fing an, dem Dingelchen eine mundgeblasene Entstehungsgeschichte anzudichten.
    Ich hatte in der Zwischenzeit kein Wort gesagt. Was sollte ich auch erzählen? Hey, Mam, Suse, hört mal, da läuft mir ständig so ein komischer Typ über den Weg, der mich irgendwie . . . irritiert? Aber auch fasziniert? Egal, wie ich es beschreiben würde, ich wusste, dass ich nicht in Worte fassen konnte, was ich wirklich fühlte.
    Ich griff nach dem Spiegel, um Dads Anhänger zu betrachten. Die Sonne war aus Sterlingsilber und hatte zwei winzige Rubine als Augen. Aber im Spiegel sah ich noch etwas – beziehungsweise, ich sah es eben nicht.
    Das Carpe diem, auf das mich der fremde Junge vorhin angesprochen hatte, war nicht zu erkennen. Und zwar deshalb nicht, weil die Worte in die Rückseite der Sonne graviert waren.
    Darüber hatte ich vorhin überhaupt nicht nachgedacht, aber natürlich war es so.
    Vergeblich versuchte ich den Kloß in meinem Hals runterzuschlucken. Hatte sich der Anhänger möglicherweise verdreht? Ich wendete ihn, aber er flippte sofort in seine richtige Stellung zurück. Die Zacken der Sonne waren mit der Kette verbunden, sie konnte sich nicht verdreht haben, unmöglich!
    Wie in aller Welt hatte der Junge wissen können, was auf der Rückseite des Anhängers eingraviert war?
    Mein Blick raste durch die riesige Markthalle. Hunderte von Menschen wanderten zwischen den Ständen umher.
    Aber der, den ich suchte, war fort.

VIER
    »Ich denke, also bin ich.« Tyger pustete in seine dampfende Teetasse. »Was fällt euch dazu ein?«
    Es war Mittwochmorgen und eigentlich hätte unser Philosophielehrer Herr Hoppenkamp hinter dem Pult stehen müssen. René Descartes war im Moment das Thema und heute hätten wir uns mit der Biografie des französischen Philosophen beschäftigen sollen. Aber Herr Hoppenkamp war krank und unser Englischlehrer vertrat ihn.
    »Cogito ergo sum«, meldete sich Lennart zu Wort. Lennart war mit Suse und mir in die Grundschule gegangen und meine beste Freundin hielt ihn für eine Kreuzung aus Giraffe und Heino, weil sich sein langer blasser Hals rot fleckte, sobald er den Mund aufmachte – und das

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