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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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tat er trotz der unschönen Begleiterscheinung ziemlich oft.
    »So lautet die lateinische Übersetzung dieses Grundsatzes«, fuhr Lennart eifrig fort. »Descartes wollte damit aufzeigen, dass wir an allem, was existiert, zweifeln können, nur nicht an dem eigenen denkenden Ich. Er meinte . . .«
    »Ich habe nicht nach Descartes’ Ausführungen zu diesem Thema gefragt«, unterbrach ihn Tyger ungnädig. »Ich habe gefragt, was euch dazu einfällt.«
    »Die Fähigkeit zu denken macht uns einzigartig«, sagte Lilith Hopf, das Mädchen mit der Schweinenase. »Es unterscheidet uns von den niederen Lebewesen. Den Tieren.«
    »Soll das etwa heißen, dass Tiere nicht sind?« Suse warf Lilith einenverächtlichen Blick zu. »Ich glaub zwar nicht, dass mein Hamster in seinem Laufrad philosophiert, aber lebendig ist er durchaus.«
    Unterdrücktes Kichern ertönte im Klassenzimmer.
    »Die Gedanken sind unser wertvollster Besitz«, kam es von Super Mario. Sein Vater war unser Elternsprecher. Janne hasste ihn, weil er jeden Elternabend mit endlosen Debatten in die Länge zog.
    »Ob wir dick oder dünn sind, reich oder arm, zählt am Ende nichts«, vertiefte er seine Behauptung. »Ein kluger Hartz-IV-Empfänger ist demnach mehr wert als ein reicher Sack, der nur blödes Zeugs im Kopf hat.«
    »Aber Idioten denken auch«, sagte Sebastian. Er war der einzige Schüler, dem Tyger gestattete zu reden, ohne sich vorher zu melden. Jenni und Paula, die rechts von ihm saßen, hingen an seinen Lippen und auch Sheila drehte sich jetzt zu ihm um. »Ich kann darüber nachdenken, wie viele Gläser Bier ich mir am Abend hinter die Binde kippe, wie viele Frauen ich im letzten Monat flachgelegt habe oder wie ich dem Türken von nebenan am besten die Fresse poliere. Damit verdiene ich mir nicht unbedingt den Nobelpreis, aber es sind Gedanken.«
    »Gedanken si-hind frei«, sang Sheila und warf sich in Pose, als stünde sie vor der DSDS-Jury. »Niemand kann sie erraten . . .«
    »Und das ist in manchen Fällen ein großer Segen«, kommentierte Tyger. »Gibt es vielleicht noch ein paar intelligentere Assoziationen? Ja, Aaron?«
    »Koitus ergo sum.« Unser Klassenclown feixte in die Runde und erntete brüllendes Gelächter. Selbst Tygers Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Lächeln. Nur Sheila runzelte angestrengt die Stirn. Sie wollte wissen, was ein Koitus sei, und als Aaron versprach, es ihr bei nächster Gelegenheit zu zeigen, explodierte die Klasse. Auch ich musste lachen, obwohl ich heute Morgen wieder mal schwer aus dem Bett gekommen war und vor lauter Müdigkeit kaum aus den Augensehen konnte. Die Aussicht auf eine Doppelstunde bei Schlaftablette Hoppenkamp war auch nicht gerade der beste Antrieb gewesen, aber wenn ich gewusst hätte, dass mein Lieblingslehrer mich hier erwartete, hätte ich definitiv geschwänzt. Ohne Vorwarnung Tyger morgens um acht, das war einfach zu viel für mich.
    Während sich die Klasse langsam beruhigte, blieben seine hellen Augen prompt an mir haften. »Was ist mit dir, Rebecca? Hättest du die Freundlichkeit, uns an deinen Gedanken zu diesem Thema teilhaben zu lassen?«
    Ich drehte den Bleistift, mit dem ich in den letzten Minuten ungefähr ein Dutzend Carpe diems in mein Heft gekritzelt hatte, in meiner Hand. Das Thema? Ich versuchte, mich zu konzentrieren, um einen halbwegs vollständigen Satz zustande zu bringen. Seltsamerweise kam er, ohne dass ich darüber nachdenken musste. »Für mich ist dieser Spruch von Descartes nur die eine Seite der Wahrheit«, hörte ich mich plötzlich sagen.
    »Aha?« Tyger zog eine Augenbraue hoch. »Interessant. Und wie lautet die andere, wenn ich dich noch ein wenig belästigen darf?« Diesmal achtete ich nicht auf Tygers Ironie. Irgendwas in seinem Gesicht brachte mich dazu, die Frage ernst zu nehmen.
    »Dass . . . wir manchmal viel mehr sind, wenn wir nicht denken«, setzte ich an. »Wenn wir fühlen oder wenn wir . . . einfach . . . sind.«
    Für eine kurze Sekunde bohrten sich die Augen meines Lehrers tief in mich hinein. Doch schon in der nächsten Sekunde war die kühle Maske wieder da. »Dann versuchen wir es doch einmal«, sagte er mit einem überlegenen Schmunzeln. »Ein kleines Experiment.« Tyger zog seine Taschenuhr aus dem Jackett und klappte sie auf. »Schließt eure Augen«, befahl er. »Na los, macht die Augen zu.«
    Wieder wurde ein Kichern laut. Suse kickte mir in die Seite. »Weck mich, wenn ich einschlafe«, murmelte sie.
    Aber ich war plötzlich hellwach.

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