Lucian
Ich tat, was Tyger sagte, und schloss die Augen. Fast unmittelbar nahm ich ein sanftes Pulsieren hinter meinen Schläfen wahr.
»Und jetzt«, drang Tygers Stimme an mein Ohr, »hört auf zu denken. Ich gebe euch drei Minuten Zeit. Auf geht’s.«
Schon nach den ersten Sekunden prusteten die Ersten los. Füße scharrten, Papier raschelte, irgendjemand täuschte ein Schnarchen vor, doch als Tyger sich räusperte, wurde es ruhiger. Ich versuchte, meinen Kopf leer zu machen, aber mein Gehirn gehorchte nicht. Wie eine Maschine, bei der die Stopptaste klemmte, begann es, Empfindungen in Worte umzuwandeln und eine nach der anderen auszuspucken.
Suse riecht nach Mandarinen. Meine Finger sind kalt. Irgendjemand hat grässliche Schweißfüße. Sebastian hat recht, auch das sind Gedanken. Ich denke an Schweißfüße, also bin ich? Hilfe! Was ist überhaupt mit ihm los in den letzten Tagen? Seit Montag hat er kaum ein Wort mit mir gesprochen. Hab ich was . . . Stopp, Rebecca, nicht denken!
Aber es war unmöglich. Es fühlte sich an, als ob ich innerlich mit aller Kraft eine Schleuse zudrückte, gegen die sich eine geballte Masse stemmte. Widerstand zwecklos. Ich gab auf. Die Schleuse öffnete sich und die Gedanken, die ich am meisten hatte verdrängen wollen, strömten auf mich ein.
Wer bist du? Was willst du von mir? Warum tauchst du auf wie aus dem Nichts, um gleich darauf wieder zu verschwinden? Und was waren das für seltsame Dinge, die du zu mir gesagt hast? Woher wusstest du, was auf der Rückseite meines Anhängers steht? Warum hast du den Satz auf Englisch übersetzt? Du hast Seize the day gesagt. Dad spricht englisch mit mir, aber du kennst meinen Dad nicht, du weißt nichts von ihm. Oder doch? Warum muss ich ständig an dich denken? Oh Gott, das ist verrückt!!! Ich will das nicht denken, ich . . .
Das Zuschnappen von Tygers Taschenuhr holte mich zurück ins Klassenzimmer. Bildete ich es mir ein oder hatte mein Lehrer mich die ganze Zeit angeschaut?
»Ihr habt es nicht geschafft«, sagte er und es war keine Frage. »Ganz egal, ob weiße Stiefel, die nächste Party oder der Widerstand gegen diese Aufgabe durch euer Gehirn gegeistert sind, ihr habt gedacht. Jede winzige Sekunde lang. Selbst euer Wunsch, nicht zu denken, war ein Gedanke. Rebeccas Bemerkung war im Grunde gar nicht so dumm. Nicht zu denken und trotzdem zu sein, könnte eine Erlösung sein. Aber diese Fähigkeit ist euch nicht gegeben.«
Mein Lehrer ließ seine Taschenuhr in seinem Jackett verschwinden. »Der englische Schriftsteller Lovell hat seinem Leben ein Ende bereitet, weil ihn seine quälenden Gedanken nicht mehr losließen«, sagte er. »Ihr seid – also denkt ihr. Das macht euch zu den einzigen Lebewesen, die sich mit ihren Unzulänglichkeiten, Zweifeln und Ängsten herumschlagen müssen. Mit dem Denken aufhören könnt ihr erst, wenn ihr tot seid.«
»Sollte das eine Ermunterung zum Selbstmord sein?«, fragte Suse, als wir in der Pause zu Doris’ Diner gingen. »Meine Güte, der war ja mal wieder voll drauf, was?«
»Mhm«, murmelte ich. Mich beschäftigten vor allem die Sätze, die Tyger am Schluss der Stunde von sich gegeben hatte. Ihr seid, also denkt ihr .
»Ist dir das auch aufgefallen?«, fragte ich Suse. »Als es darum ging, dass wir die eigenen Gedanken nicht abstellen könnten, sagte Tyger ihr und euch . Als ob er nicht dazugehören würde.«
»Wow!« Suse stupste mich an. »Worauf du alles achtest! Und das morgens um halb neun. Mir ist das selbst jetzt noch zu hoch, wenn ich ehrlich bin. Ich sterbe nämlich gleich vor Hunger. Und ich glaube,da vorne will jemand Klartext reden.« Suse nickte zum Diner. Sebastian wartete mit verschränkten Armen neben der Tür.
»Der hat dich die ganzen Tage schon so düster gemustert«, flüsterte Suse mir zu. »Was ist los, habt ihr Stress?«
»Nicht dass ich wüsste«, entgegnete ich unsicher. Dass wir uns wieder trafen, hatte ich Suse erzählt und sie hatte es stirnrunzelnd zur Kenntnis genommen.
»Na dann.« Suse klopfte mir auf die Schulter. »Ich denke, ich bin unterzuckert, also esse ich. Und du schrei um Hilfe, wenn du denkst, du brauchst mich.« Suse drückte meinen Arm und verschwand im Diner.
»Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«, fragte Sebastian, als wir allein waren. »Oder besser gesagt: jemanden?«
Ich duckte mich unwillkürlich unter dieser Frage. »Ich weiß nicht, was du meinst«, entgegnete ich zögernd.
»Schwarze Haare«, sagte Sebastian. »In etwa so groß
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