Lucian
Luft, und als ich mir die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte, war er um die Ecke verschwunden.
Suse sah mich besorgt an und Sebastian hielt mir sein Glas hin. »Hier, trink was. Mensch Becks, du bist ja rot wie ein Krebs. Besser?«
Ich trank, schluckte, dann nickte ich wieder. Dass mein Puls verrücktspielte, lag nicht an meinem Hustenanfall.
»Ich komm gleich nach«, sagte ich, als Suse und Sebastian schließlich aufstanden und ihre Tabletts zurückgaben. »Ich muss kurz aufs Klo, geht schon mal vor.«
Als sich die Tür hinter den beiden schloss, stürzte ich zum Tresen. »Entschuldigung«, wandte ich mich an die Bedienung. Sie hatte kurze knallgrüne Haare und ein Salamandertattoo auf dem Oberarm. »Der Junge, der hier vorhin saß.« Ich räusperte mich. »Weißt du zufällig seinen Namen? Oder hast du ihn hier schon mal gesehen?«
Die Grünhaarige drehte ihren Kopf zu dem Platz, an dem der Junge gesessen hatte. Das Colaglas und der Teller standen noch da, beides leer, bis auf ein Salatblatt, das einsam auf dem Tellerrand lag.
»Oh Shit!«, rief sie aus. »Der Arsch hat nicht bezahlt!« Ihr Gesicht war rot vor Wut, als sie sich mir wieder zuwandte. »Nein, ich habe nicht seinen Namen. Und wenn ich ihn hätte, würde ich die Bullen rufen. So ein Scheißkerl! Hat er dir etwa auch was geklaut?«
Als ich stumm den Kopf schüttelte, runzelte sie die Stirn.
»Moment mal. Hast du nicht da vorn neben der Tür gesessen? Du hattest einen Hustenanfall?«
»Ähm . . . ja«, stammelte ich.
»Na super!« Die Grünhaarige schnaubte. »Der Typ hat mich auch nach dir gefragt. Wollte wissen, ob du öfter hier bist. Und ob dieser blonde Chico, der auf deinem Rücken rumgetrommelt hat, dein Freund sei.«
Mir wurde schwindelig. »Und . . . was hast du ihm gesagt?«
»Was ich gesagt habe?« Die Grünhaarige stemmte ihre Fäuste in die Seiten. »Bin ich eine Partneragentur, oder was? Ich hab gesagt, dass er dich das gefälligst selbst fragen soll. Und als Dankeschön prellt er die Zeche.« Sie schüttelte den Kopf. »Fuck, und ich hab nicht mal mitgekriegt, dass er sich aus dem Staub gemacht hat!«
Ich holte tief Luft. »Wie viel?«
»Hä?« Die hellen Augenbrauen der Grünhaarigen schoben sich dicht zusammen.
»Das Essen.« Ich deutete auf den leeren Platz am Tresen. »Wie viel?«
»Oje.« Ein mitleidiges Lächeln erschien auf den Lippen der Servicekraft. »Dich scheint es ja schwer erwischt zu haben, Herzchen. Aber bitte, bevor ich es aus meiner eigenen Tasche zahle . . .« Sie streckte die Hand aus. Sechs Euro neunzig. Trinkgeld nicht mitgerechnet.«
»Hier.« Ich öffnete mein Portemonnaie und drückte der Grünhaarigen sieben Euro in die Hand. »Stimmt so.«
»Besten Dank. Und für die zehn Cent lass ich noch einen kleinen Tipp springen. Halt dich von solchen Typen fern. Die bringen nur Ärger.«
Dann drehte mir die Grünhaarige den Rücken zu und verschwand in der Küche.
Nach der Mittagspause hatten wir noch eine Stunde Französisch, in der wir einen Test schrieben (für den ich nicht gelernt hatte), und eine Doppelstunde Englisch, in der uns Tyger eine Schauergeschichte von Lovell vorlas (von der ich kein einziges Wort mitbekam). Schwarze Haare, dachte ich. In etwa so groß wie ich. Punkige Lederjacke. Brauchte ich noch ein paar Stichworte? Ja, jede Menge, aber davon würde ich Sebastian wohl kaum erzählen können. Verdammt, Tyger hatte recht. Ich hätte viel darum gegeben, das Denken einzustellen.
Gleich von der Schule aus fuhr ich zur Alsterschwimmhalle. Hier hatte ich sieben Jahre lang trainiert, dreimal die Woche. Mein Trainer hielt große Stücke auf mich, aber meine Mannschaftskolleginnen gingen mir mit jedem Jahr mehr auf den Geist. Ich passte nicht ins Bild. Meine Hüften waren zu rund, meine Brüste zu groß – und dass ich trotzdem zu den Besten gehörte, trug nicht gerade zu meiner Beliebtheit bei. Nach meinem sechzehnten Geburtstag war ich aus dem Verein ausgetreten und bereute es keine Sekunde.
Aber das Schwimmen war nach wie vor die einzige Sportart, die ich liebte. Ich trainierte für mich allein, maß mit dem Polar meine Geschwindigkeit und verbesserte meine Kondition von Monat zu Monat.
Heute war zum Glück nicht viel los, sodass ich eine ganze Bahn für mich allein hatte. Ich fing mit Brust- und Rückenschwimmen an, um mich aufzuwärmen. Dann begann ich zu kraulen und irgendwann tauchte ich im wahrsten Sinne des Wortes ab. Hier im Wasser wurde alles leichter, schwereloser,
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