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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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drei Jahre alt war, starb seine Mutter unter den Händen seines Vaters bei einer missglückten Operation. Mein Urgroßvater kommentierte das mit den Worten, dass die Männer in seiner Familie noch nie mit handwerklichem Geschick gesegnet gewesen seien und dass sich das tapfere Schneiderlein, wie er seinen Vater titulierte, fortan vor allem in der Kunst des Trinkens übte.
    Er selbst, schrieb mein Urgroßvater, habe davon allerdings nur profitieren können. Wie sonst wäre er an all die entzückenden Kindermädchen gekommen – allen voran die bildschöne Französin, an die er in der Nacht seines vierzehnten Geburtstags seine Unschuld verlor? Sie hieß Lucille und neben ihrem gewaltigen Busen hob er vor allem ihren klangvollen Akzent hervor. Die Lektüre danach nannte er die Geschichten, aus denen Lucille ihm vorlas – und ihm damit die Welt der Bücher eröffnete.
    Bücher und Frauen blieben das Thema seines Lebens.
    Als Junge mochte mein Urgroßvater die Werke von Charles Dickens und Lewis Caroll. Später kamen Edgar Allan Poe, Jules Vernes und H. G. Wells dazu, mit dem er eng befreundet war.
    In diesen Jahren hatte sich mein Urgroßvater bereits einen Namen als Literaturkritiker gemacht und er schrieb unter anderem für eine Zeitung in Los Angeles und die New York Times. Sein Leben schien zu der Zeit vorwiegend daraus bestanden zu haben, auf diversen Partys mit berühmten Schriftstellern und anderen Größen aus dem Kulturgeschehen Spaß zu haben.
    Er verbrachte einige Jahre in Europa, hatte noch mehr Spaß, traf noch mehr Berühmtheiten und in London, wo er seine Stelle bei der Times antrat, begegnete er dann der Frau seines Lebens.
    So schrieb er es wortwörtlich.
    Insgesamt streifte er sie mit nur wenigen Zeilen, aber diese Sätze waren auffallend ernst. Zum ersten Mal, hieß es in seinem Buch, sollte ich erleben, was es heißt, aus Liebe sterben zu wollen.
    Die junge Engländerin schien ihm allen Anlass dafür gegeben zu haben, als sie ihn in der Nacht vor ihrer Hochzeit wegen eines anderen Mannes verließ. Mein Urgroßvater nahm sich nicht das Leben, aber seine zynische Einstellung zum Thema Leben und Liebe fand er offenbar bestätigt – was ihn nicht daran hinderte, zahlreiche Geliebte und fast ebenso viele Ehefrauen zu haben.
    So viel zum Thema Liebeskummer, dachte ich und blätterte mich zum hinteren Teil des Buches durch. Dort fand ich dann ein Bild von Dad. Von welcher Ehefrau meines Urgroßvaters er nun genau abstammte, bekam ich nicht mehr auf die Reihe, aber das Bild fesselte mich sofort.
    Es zeigte meinen Dad, wie er als kleiner Junge neben meinem Urgroßvater an einem Anleger saß und angelte. Schulter an Schulter hockten sie da, wie verschmolzen mit der Natur um sich herum.
    Am Schluss des Buches erwähnte er Dad dann noch und auch hier hatte ich das Gefühl, dass mein Urgroßvater in kurzen Zeilen etwas über sich preisgab, das er auf all den anderen Seiten hinter seinem Zynismus versteckte.
    In meinem Enkel Alec fand ich etwas wieder, das ich selbst verloren hatte. Das tiefe Urvertrauen, geliebt zu werden für das, was man ist.
    Ich wusste, was er meinte. Meine Eltern hatten mir dieses Gefühl gegeben, genauso wie Spatz, und es war wie eine Rüstung gegen alles, was mich verletzen konnte, schimmernd und undurchlässig.
    All die Partys, die berühmten Freunde, der Erfolg – sie schienen nicht verhindert zu haben, dass mein Urgroßvater im Grunde genommen ein ziemlich einsamer Mensch gewesen war, zumindest in meinen Augen.
    Ich ließ das Buch sinken. Draußen begann es zu regnen, ein lautloser Schleier von hauchdünnen Bindfäden fiel vom Himmel. Das Wetter war umgeschlagen. Ich sah aus dem Fenster und dachte an Lucian. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich gar nicht aufgehört hatte, an ihn zu denken, selbst in den letzten Stunden des Lesens hatte er sich in einen Winkel meines Gehirns eingenistet.
    Ich blickte zum Hafen hinüber, auf die Elbe, die so grau war wie der Himmel. Wasser und Luft verschmolzen, es schien, als hätte ihnen jemand sämtliche Farbe entzogen.
    Wo war er jetzt? Was machte er gerade? Und wo würde er die heutige Nacht verbringen? Meine Gedanken wanderten zurück zu unserer Begegnung am Feuer. Es war verrückt gewesen, unheimlich. So etwas passierte nicht. Aber es war mir passiert, und ganz egal, was ich darüber dachte – es hatte sich richtig angefühlt.
    Ich schloss die Augen, um ihn besser sehen zu können, sein ovales Gesicht, das dunkle Haar, die tiefen Schatten

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