Lucian
war nur . . . spazieren.«
Janne starrte mich an, mit offenem Mund.
Dann holte sie aus und schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht.
ACHT
Ich hatte Hausarrest. Zum ersten Mal in meinem Leben. Nie hatte ich meine Mutter so außer Fassung erlebt und niemals zuvor hatte sie mich geschlagen. Janne hasste Gewalt, sie hielt nichts von Strafen. Allerdings hatte sie auch selten Grund, sich über mich zu ärgern.
Ich war das Pendant zu ihr. Ich nahm keine Drogen, betrank mich nicht sinnlos auf irgendwelchen Partys, und wenn es abends mal später wurde (was selten vorkam), dann rief ich zu Hause an. Wenn ich Sorgen hatte, mit denen ich nicht alleine fertig wurde (was ebenfalls selten vorkam), war sie für mich da. Bis auf gestern.
Okay, es war wirklich verdammt spät gewesen. Ich war ohne ein Wort von der Party verschwunden, mitten in der Nacht, mitten am gottverlassenen Elbufer. Die anderen hatten offenbar ebenfalls versucht, mich zu erreichen. Meine Anrufliste war voll, Suse, Sebastian, Janne, sie alle hatten es mehrmals probiert. Wahrscheinlich war ich in einem Funkloch gewesen und sie waren vermutlich halb wahnsinnig vor Sorge geworden. Erst vor ein paar Tagen hatte wieder irgendein Serientäter für Schlagzeilen gesorgt und letzte Woche war in einem Waldstück bei Elmshorn die Leiche eines Mädchens gefunden worden. Mir hätte sonst was passiert sein können – ja, das war mir alles klar und es tat mir leid! Aber musste Janne mich deshalb abführen wie eine Verbrecherin? Im Auto fragte sie mich noch einmal, was zum Teufel ich so lange getrieben hätte, und wäre ihr Tonfall nicht so unglaublich scharf gewesen, hätte ich ihr vielleicht die Wahrheit erzählt. Stattdessen wiederholte ich die Geschichte von meinem Spaziergang, woraufhinsie ihre Lippen aufeinanderpresste und die Finger um das Lenkrad krallte. Zu Hause verhängte sie dann die Ausgangssperre.
Bis Ende Oktober hatte ich gleich nach der Schule nach Hause zu kommen, ohne Umwege. Keine Partys, keine Shopping-Ausflüge mit Suse, selbst das Schwimmen war gestrichen. Wenn ich nicht so fassungslos gewesen wäre, hätte ich ihr vielleicht ins Gesicht gelacht. Es war verrückt: Meine offene, verständnisvolle Psychologenmutter verhielt sich plötzlich wie all die Eltern, über die wir uns sonst gemeinsam aufregten. Das Schlimmste daran war, dass ich diesmal wirklich ein Problem hatte, das mir langsam, aber sicher über den Kopf wuchs. Aber Janne war die Letzte, der ich mich jetzt anvertraut hätte. Abgesehen davon: Wenn Suse schon hysterisch wurde, würde meine Mutter Lucian erst recht für einen Psychopathen halten.
Mit Suse und Sebastian hatte ich telefoniert und ihnen dasselbe erzählt wie Janne. Natürlich glaubten sie mir kein Wort. Suse löcherte mich mit Fragen und fand Jannes Reaktion ebenso übertrieben wie ich, während Sebastian kühl und verhalten blieb.
Den Sonntag verschanzte ich mich in meinem Zimmer und verbrachte die Zeit damit, im Internet nach aktuellen Vermisstenanzeigen zu suchen. Im Westerwald war ein kleines Mädchen nicht von der Schule zurück nach Hause gekommen. Eine junge Frau suchte ihren Verlobten, ein Jugendlicher, fünfzehn, rothaarig, kräftig, war von zu Hause ausgerissen. Und das war nur der Anfang. Das Netz wimmelte nur so von Foreneinträgen besorgter Familienangehöriger. In allen möglichen Ländern wurden Menschen vermisst, manche Nachrichten waren neu, andere uralt. Aber ich fand keine, die auch nur annähernd zu Lucian passte. Nach ein paar Stunden gab ich entmutigt auf und legte mich auf mein Bett. An Schlaf war nicht zu denken, Hunger hatte ich auch keinen, stattdessen kreisten meine Gedanken immer wieder um ihn.
Lucian.
Noch nie hatte ich mich gleichzeitig so erschöpft und so unruhig gefühlt.
Um mich abzulenken, vertiefte ich mich in das Buch meines Urgroßvaters. Merkwürdigerweise war es genau das Richtige. Zuerst überflog ich die Kritiken im Anhang. Sein Ton war intelligent, witzig und amüsant, und wenn er seine Spitzen ansetzte, tat er das nie direkt, sondern ziemlich subtil. Er schaffte es, seine Leser zum Lachen zu bringen, und ich konnte mir gut vorstellen, warum er es als Journalist so weit gebracht hatte.
Vermutlich hatten das nur diejenigen, deren Werke mein Urgroßvater unbarmherzig niedermetzelte, anders gesehen.
Sein eigenes Leben beschrieb er allerdings genauso schonungslos. William Alec Reed war ein Einzelkind gewesen, sein Vater leitete als Chirurg ein Sanatorium. Als mein Urgroßvater
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