Lucian
Zwitschernd schaute er aus seinen schwarzen Augen auf uns herab. Ich musste an meinen Hausarrest denken.
Spatz warf mir einen ihrer Blicke zu.
»Bist du okay, Knastschwester?«, fügte sie hinzu.
Ich rollte mit den Augen. »Klar. Vielleicht lasse ich mir aus der Apotheke ein paar Schrumpfpillen schicken, dann setz ich mich zu John Boy und Jim Bob hinter Gitter. Ob die beiden wissen, dass sie Flügel haben? Und wozu sie da sind?«
Jetzt kicherte Spatz, dann wurde sie plötzlich ernst. Sie sah mich an, die Stirn gerunzelt, die goldbraunen Augen unruhig. Schließlich strich sie mir über die Wange. »Nimm es deiner Mam nicht übel, Rebecca. Sie macht gerade etwas durch.«
Ich auch, dachte ich. Aber deshalb schlage ich nicht um mich oder verhänge übertriebene Strafen.
Ich legte meine Hand auf Spatz’ Schulter. »Nacht, Spatz«, sagte ich.
»Nacht, Rebecca. Schlaf gut.«
Die Ereignisse der nächsten Wochen waren nicht nennenswert – und genau das machte mich wahnsinnig. Wenn ich etwas zu tun gehabt hätte, wenn ich meinen normalen Alltag gehabt hätte – vielleicht hätte ich mich eher ablenken können. Aber so war ich ständig auf mich geworfen. Ich hatte Hausarrest, aber gleichzeitig waren meine Gedanken mit eingesperrt, sie liefen Amok in meinem Kopf und brachten mich um den Schlaf und um das bisschen Fassung, das ich noch hatte.
Spatz war überglücklich, weil sie bei ihrer Suche nach dem Atelierplatz endlich fündig zu werden schien. Sie erzählte mir von der Künstlergemeinschaft in Sankt Georg, die in einer alten Maschinenfabrik lagund sich »Die Koppel« nannte. Künstler aus allen Teilen Deutschlands arbeiteten dort in ihren Ateliers und einer von ihnen war tatsächlich an einer Untermieterin interessiert. Er wollte Spatz treffen, noch ganz unverbindlich, aber es war zumindest ein erster Schritt.
Auch bei Suse schien das Glück angedockt zu haben. Dass ich ausgerechnet an ihrem Geburtstag verschwunden war, ohne Bescheid zu sagen, hatte sie mir verziehen. So wie man Suse nicht lange böse sein konnte, brachte auch sie es nicht fertig, einem irgendetwas nachzutragen. Und ich rechnete es ihr hoch an, dass sie keine weiteren Versuche machte nachzubohren, was genau passiert war. Suse vertraute mir – im Gegensatz zu Janne.
Dimo hatte inzwischen einen Proberaum gefunden, zu einer wie Suse sagte »galaktisch niedrigen Miete«. Diese Neuentwicklung hielt Dimo zum Glück so in Atem, dass sich seine Treffen mit Suse fast ausschließlich um die Band drehten. Nur einmal war er ihrem BH gefährlich nah gekommen, und zwar der rechten, ungepolsterten Seite.
»Seine Fingerspitzen waren schon dran«, sagte sie und rollte mit den Augen. »Er war wild entschlossen, aber dann hat sein Handy geklingelt und der Besitzer des Proberaums verkündete, dass wir den Vertrag unterschreiben könnten. Scheiße, Becky. Meinst du, ich soll vorher mit ihm sprechen? Aber was soll ich sagen? Was würdest du an meiner Stelle tun?«
Mich mit denselben Fragen herumquälen, dachte ich. Die erwachsene Antwort darauf war vermutlich, dass sich Suse einen Freund suchen sollte, dem so etwas egal war. Aber würde es ihr damit wirklich besser gehen? Irgendwie bezweifelte ich das.
Hilflos erwiderte ich: »Ich würde es abwarten, Suse. Wenn der Moment da ist, wirst du schon wissen, was du machst!«
Suse seufzte und ich hoffte, der Moment würde noch eine Weile auf sich warten lassen.
Die einzige Rettung in dieser Zeit war die Schule. Ich hätte nie geglaubt, dass ich das mal sagen würde, aber ich sehnte mich nach dem Unterricht. Zu meiner Erleichterung bombardierte uns unser Spanischlehrer mit Grammatik und Vokabeln – und im Unterschied zum Englischen musste ich diese Sprache regelrecht in mich hineinpauken. In Bio schrieben wir eine Arbeit über die Wirkung von Drogen auf das Nervensystem. Aaron hatte sich zur Vorbereitung in der großen Pause einen fetten Joint reingezogen und starrte wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf sein leeres Blatt. Sheila kaute nervös auf ihrem Kugelschreiber herum und beobachtete Sebastian, der den Kopf über sein Heft gesenkt hatte und wie wild die Seiten füllte.
Wir bekamen tonnenweise Hausaufgaben in Mathe auf und Tyger gab uns eine seiner Spezialaufgaben, die diesmal nichts mit Ambrose Lovell zu tun hatte.
»Sucht euch den ersten Satz eines Romans oder einer Kurzgeschichte aus, den ihr bemerkenswert findet«, sagte er. »Wenn es ein deutscher Satz ist, übersetzt ihn ins Englische. Schreibt einen
Weitere Kostenlose Bücher