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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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unter seinen Augen.
    Ich mag dich. Wenn du in meiner Nähe bist, fühle ich mich gut.
    Und wenn ich nicht bei ihm war? Wer hatte ihm in seiner Vergangenheit ein gutes Gefühl gegeben? Welche Menschen waren ihm nah gewesen, welche Menschen hatten ihn vielleicht verletzt?
    Und vor allem, warum konnte er sich nicht daran erinnern?
    Ein Artikel aus der Zeitung fiel mir ein, ich hatte ihn vor ein paar Jahren gelesen. Es ging um einen Mann, der ohne Erinnerungen an einem Strand aufgewacht war. Er war nackt gewesen und sprach kein Wort, aber in der Psychiatrie fing er plötzlich an, virtuos Klavier zu spielen. Janne hatte damals vermutet, dass der Mann einen schweren Schock erlitten hatte und dass sich sein Körper nun schützte, indem er alle Erinnerungen verbannte. Wie es mit dem Mann weitergegangen war und was wirklich hinter seiner Geschichte steckte, wusste ich nicht.
    Und Lucian? Hatte auch er einen Schock erlitten?
    Immerhin war er ähnlich wie der Mann aus England irgendwo am Hafen aufgewacht. Nackt.
    Nackt bedeutete nicht nur ohne Kleidung, sondern auch ohne einen Namen, ein Alter, ein eigenes Leben.
    Wie hieß Lucian wirklich? Wie alt war er? Was für ein Leben hatte er vergessen? Und die wichtigste Frage: Was hatte ich damit zu tun? Warum wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich darin eine Rolle spielte, auch wenn ich mir beim besten Willen nicht erklären konnte, welche?
    Ich dachte an das Bilderbuch von Max und den wilden Kerlen, aus dem Lucian so wortgetreu zitiert hatte. Hatte er das Buch wirklich in einem Buchladen entdeckt? Oder spielte er mir, aus welchem Grund auch immer, etwas vor?
    Plötzlich ärgerte ich mich furchtbar, dass ich ihm nicht meine Handynummer gegeben hatte. Bis zu diesem Maskenball waren es noch Wochen – und es stand in den Sternen, ob ich überhaupt dorthin kommen würde. Andererseits kannte Lucian meine Adresse. Er wusste, wo ich wohnte, wo ich mich aufhielt. Wenn er mich wirklich sehen wollte, konnte er mich finden.
    Es ist nicht gut, wenn man uns zusammen sieht.
    Das hatte er gesagt, als die Rufe lauter geworden waren. Ich hatte es einfach so akzeptiert, aber jetzt wurde mir erst richtig bewusst, was das hieß.
    Wovor schreckte er zurück? Wenn er wirklich seine Erinnerungen verloren hatte, dann gab es schließlich nichts, was er verheimlichen konnte.
    Plötzlich erschien mir alles grundfalsch. So verhielt sich doch niemand, der seine Erinnerungen verloren hatte! So verhielt sich nur jemand, der sich aus irgendeinem Grund schuldig fühlte.
    Ich dachte an Suse, die vermutet hatte, dass Lucian ein Stalker war.
    Stalker gingen weit, verdammt weit, davon hatte ich gelesen und ich hatte die Vorstellung immer ziemlich gruselig gefunden. Vielleicht hatte er irgendwie etwas über mein Leben herausbekommen –und sich seine eigene Geschichte einfach nur ausgedacht? Aber konnte ich mich in einem Menschen so täuschen?
    Ich fuhr zusammen, als ich draußen im Flur plötzlich Schritte hörte, erst leiser, dann wurden sie lauter, kamen näher, bis sie dicht vor meiner Tür verharrten. Einen Moment lang war alles still, dann sah ich, wie meine Klinke langsam nach unten gedrückt wurde. Ich zog die Bettdecke über meine Brust und drehte mich zur Wand.
    »Rebecca?«
    Es war Janne. Ich roch ihr Parfüm und spürte ihre Gegenwart im Zimmer. Vermutlich stand sie an der Tür und blickte zu mir hinüber.
    Alles in mir krampfte sich zusammen, so sehr bemühte ich mich, keine Regung zu zeigen.
    Hau ab, dachte ich grimmig. Verzieh dich. Lass mich bloß allein.
    Die Wut saß tief, tiefer, als ich es je für möglich gehalten hätte. Meine Mutter hatte mich vor meinen Freunden ins Gesicht geschlagen. Sie hatte mir Hausarrest gegeben. Und das Allerschlimmste: Sie hatte mir misstraut.
    Wie konnte sie mich ausgerechnet in dem Moment verraten, in dem ich sie eigentlich brauchte? Irgendwie fühlte ich, dass sie sich gerade dasselbe fragte – und ich genoss ihr schlechtes Gewissen. Es geschah ihr nur recht.
    Janne ging, ohne etwas zu sagen.
    Als ich mich am Abend noch einmal in die Küche schlich, hörte ich meine Mutter hinter ihrer Schlafzimmertür weinen. Spatz redete leise auf sie ein, ich verstand ihre Worte nicht, aber ich blieb vor der Tür stehen, bis Jannes Schluchzen verstummt war.
    Nachts träumte ich.
    Ich schwamm in einem See, es war dunkel. Das Wasser war angenehm kühl, ich konnte es auf meiner Haut fühlen, es prickelte, während meine Arme nach vorn schnellten, weiter und immer weiter. Das

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