Lucian
meiner Seite ist. Aber so eine Freundin hab ich scheinbar nicht. Also: Wenn du wirklich wissen willst, warum ich nicht mit dir spreche – dann sind das hoffentlich Gründe genug.«
»Ja.« Suses Stimme war mit einem Mal schrecklich leise. »Das sind Gründe genug. Wenn du die Sache so siehst, dann habe ich nichts mehr zu sagen. Und nichts mehr zu fragen.« Damit drehte sie sich um und ging.
Ich sah ihr hinterher. Meine Wut war draußen. Ich fühlte mich so mies wie noch nie in meinem Leben.
Sebastian kam an diesem Tag nicht zur Schule. Suse setzte sich auf seinen Platz, und nachdem ich mich durch eine Doppelstunde Mathe, einen Spanischtest und eine gähnend langweilige Französischstundegequält hatte, machte ich mich nach der letzten Stunde auf den Weg zu ihm.
Er wohnte nicht weit von mir, in der Fischers Allee in Ottensen, und als ich klingelte, öffnete mir sein kleiner Stiefbruder Karl die Tür.
»Du kannst hier nicht rein«, sagte er. »Ich darf nämlich gar nicht die Tür aufmachen.«
»Hast du aber«, entgegnete ich und musste lachen. »Wo ist denn deine Mama?«
»Einkaufen.«
»Und Sebastian?«
»Der kotzt.« Karl verzog das Gesicht. Ich mochte den Kurzen, er hatte rote Locken, ein rundes Gesicht voller Sommersprossen und war von entwaffnender Ehrlichkeit. »Und außerdem muss er ständig kacken. Kotzen und kacken. Das ganze Bad stinkt.«
»Oh.« Zu viel Information. »Wo ist dein Bruder denn jetzt?«
»Im Bett. Schläft.« Karl zog die Nase hoch. »Und du musst gehen.«
Er wollte mir die Tür vor der Nase zumachen, aber ich schob meinen Fuß dazwischen. »Ich muss deinem Bruder was geben. Von der Schule. Lass mich bitte kurz rein, ja?« Beschwörend lächelte ich Karl an. »Du kennst mich doch. Ich bin kein Fremder. Deine Mama wird schon nicht mit dir schimpfen, wenn sie mich sieht.«
»Und wenn doch, bist du schuld?« Karl machte ängstliche Augen.
»Klar.« Ich strich ihm über die roten Locken. »Ich übernehme die Verantwortung.«
»Na gut.« Zögernd trat Karl zurück und ich klopfte leise an Sebastians Zimmertür. Als niemand antwortete, drückte ich die Klinke hinunter. Die Vorhänge waren zugezogen und Sebastian lag mit dem Rücken zur Wand unter der Bettdecke. Vorsichtig schlich ich mich ins Zimmer, und als Sebastian sich zu mir umdrehte, schreckten wir beide zusammen.
»Was willst du hier?«, brummte er. Er zog die Bettdecke wie einen Schutzschild vor seine Brust.
»Mit dir reden.«
»Ich will nichts hören.« Seine Stimme war kalt und abweisend. »Wie bist du überhaupt hier reingekommen?«
»Ich bin gar nicht schuld!« Karl stand im Zimmer, die Hände in den Hosentaschen. Unsicher sah er zu seinem großen Bruder.
»Das stimmt«, sagte ich schnell. »Ich hab ihn überrumpelt. Karl, lässt du uns beide bitte für einen Moment allein?«
Karl schüttelte den Kopf. Er machte einen Schritt nach vorn, aber Sebastian winkte ihn mit einer Armbewegung zurück.
»Sei lieb, Zwerg. Ist schon gut. Ich sag Mama, dass ich sie reingelassen hab. Geh in dein Zimmer, okay?«
»Okay.« Widerwillig zog Karl ab.
Ich wusste nicht, wo ich mich hinsetzen sollte. In Sebastians Zimmer herrschte Chaos. Bücher stapelten sich auf dem Nachttisch. Überall lagen Kleidungsstücke, auf dem Boden, auf dem Schreibtischstuhl, dem kleinen Sessel. In der Zimmerecke, unter dem Boxsack, entdeckte ich das Kaninchenkostüm. Die riesigen Kulleraugen starrten mich an und ich fühlte mich entsetzlich.
»Also.« Sebastian setzte sich im Bett auf und trank einen Schluck Wasser aus der Flasche, die neben ihm auf dem Nachttisch stand. Blass und elend sah er aus. »Was willst du?«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich will wissen, warum du mit meiner Mutter gesprochen hast«, sagte ich, so ruhig ich konnte.
»Mit deiner Mutter?« Sebastian runzelte die Stirn. »Was soll denn der Scheiß?«
»Du hast ihr von Lucian erzählt. Komm schon, gib es wenigstens zu!« Ich setzte mich ans Fußende seines Bettes. Sebastian wich zurück, als ob ich diejenige wäre, die eine ansteckende Krankheit hätte.
»Ich kenne keinen Lucian«, sagte er verächtlich. »Ich kenne nur einen Typen, der dir seit Wochen hinterherspioniert und der laut Suse ein gestörter Stalker ist. Aber warum sollte ich mit deiner Mutter über ihn sprechen? Für wen hältst du mich?«
»Aber . . .« Ich war total verwirrt. Sebastian hatte recht. Er konnte nicht wissen, wie Lucian hieß. Ich hatte seinen Namen vorher nie erwähnt, nicht einmal Suse
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