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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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Fußende stapelten sich Wolldecken in verschiedenen Farben. Rot, Grün, Gelb, Blau, Weiß, Grau, Schwarz. Farben sind Spiegel der Seele, sagte Janne oft. Und sicher verriet die Wahl der Decke etwas über den Gemütszustandvon Jannes Klienten. Welches war die meistgewählte? Welche hatte Lucian sich ausgesucht? Hatte er überhaupt hier gesessen? Hier in Jannes Praxis, gegenüber von meiner Mutter?
    Meine Hände waren kalt und feucht, während mein Gesicht glühte. Auf dem kleinen Holztischchen stand eine rote Vase mit einer weißen Blume neben einer Box mit Kleenextüchern.
    Jannes Arbeitszimmer war der größere der beiden Räume. Eine riesige Bücherwand füllte die Querseite. Davor, mit Blick in den Raum, stand der Schreibtisch, auf dem die Papiere ordentlich gestapelt waren.
    Auf der Längsseite waren Regale mit Fächern, Türen und Schubladen. Weitere Vasen verteilten sich im Raum, die Blumen waren noch frisch und verströmten einen süßen Duft. Das einzig persönliche Element war eine mannsgroße Holzskulptur aus drei aufeinandergestapelten, quaderförmigen Klötzen. Man konnte sie drehen und in den obersten Holzklotz waren vier verschiedene Gesichter eingeschnitzt, auf jede Seite eins. Mit ihren unsymmetrisch angeordneten Augen hatten sie Ähnlichkeit mit den Figuren von Picasso. Janne hatte die Skulptur in einer Galerie in Italien entdeckt und nach Hamburg bringen lassen.
    Bei der mir zugewandten Seite waren Nase und Mund vertauscht, während die Augen zusammengeschoben wie ein einzelnes großes auf der Stirnmitte prangten. Das Auge starrte mich an. Ganz eindeutig starrte es mich an.
    Ich riss mich los und ging auf Jannes Schreibtisch zu. Wo sollte ich anfangen? Jannes Laptop stand aufgeklappt auf dem Tisch. Ich drückte auf die Einschalttaste und fluchte leise. Nein, verdammt, ich hatte kein Passwort! In blinder Hoffnung tippte ich Wölfchen ein, dann Spatz , dann Rebecca , aber alles war falsch.
    Sackgasse.
    Ich zog die beiden Schreibtischschubladen auf. Büroklammern, Bleistifte, Blöcke, Post-its in der einen, Halstabletten, Aspirin, Mandel-Honig-Riegel und Tampons in der anderen.
    Okay. Was war mit den Regalen? Hier gab es jede Menge Fächer und Türen. Papiere von Krankenkassen. Gutachten, Anträge, was auch immer. Sollte ich den Kram wirklich komplett durchsuchen? Blitzschnell dachte ich nach. Wenn Lucian tatsächlich bei meiner Mutter gewesen war, dann bezahlte das ja wohl kaum eine Krankenversicherung. Selbst wenn er vielleicht eine hatte – er kannte sie nicht. Er hatte keine Identität.
    Ich zog ein weiteres Fach auf, das gefüllt war mit alphabetisch geordneten Aktenordnern. Die Namen der Klienten sagten mir überhaupt nichts.
    Das nächste Fach. Kleine Kassetten – sie sahen altmodisch aus und ich erinnerte mich daran, wie Janne sich vor ein paar Jahren ein neues Aufnahmegerät gekauft hatte und ich ganz verwundert gewesen war. »Du zeichnest die Gespräche deiner Klienten auf?«, hatte ich sie gefragt. »Darfst du das denn?«
    Janne hatte gelächelt. »Wenn die Patienten einverstanden sind, ja, und ich mache es auch nur bei manchen.«
    Von dem Aufnahmegerät war jetzt jedoch nichts zu sehen. Nur die Bänder standen sorgsam aufgereiht auf der dunklen Holzfläche des Regals. Manche waren noch in ihrer Plastikverpackung, andere gebraucht und mit Namen beschriftet. Lucians Kassette war nicht dabei.
    Im nächsten Fach fand ich schwarze Lederbände von Moleskin, ebenfalls alphabetisch geordnet, mit kleinen aufgeklebten Goldbuchstaben auf den Einbänden. Wahllos zog ich eins heraus, um den Inhalt zu überprüfen. Offensichtlich hatte sich Janne über einen ihrer Patienten Notizen gemacht, es ging um eine Frau namens Anne B.
    Mein Blick raste über die Satzfetzen.
    Anne B.
12.4.2008
Behinderter Bruder war Liebling der Mutter
Vater kalt, schweigsam. Ehe geschieden, als A. 5 Jahre alt war.
Bettdecke schwer wie Blei.
Kratzen, Krallen, Raubtier, Selbstverletzung.
Aggression gegen andere richtet sie gegen sich selbst.
Lebensgefährte arbeitslos. Alkoholiker
Kalt, schweigsam (Parallele Vater!)
    Ich klappte das Buch zu und schob den schwarzen Lederband zurück an seinen Platz. Okay, wo war der Buchstabe L? Vier Bände.
    Fernando L.
    Johanna L.
    Katharina L.
    Sven L.
    Shit! Ich warf einen Blick auf die Uhr. Noch mal Shit! Zwanzig Minuten hatte ich bereits vergeudet. Und diese dämlichen L waren alle Anfangsbuchstaben von Nachnamen. Lucian hatte keinen Nachnamen.
    Hatte ich mich geirrt? Lag ich doch falsch

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