Lucian
gegenüber. Ich hatte mit niemandem darüber gesprochen, dass ich ihn an der Elbe getroffen hatte. »Aber meine Mutter«, flüsterte ich. »Sie weiß, dass ich ihn auf dem Maskenball gesehen habe, und sie weiß, dass du ihm mit der Polizei gedroht hast. Sie kannte seinen Namen. Woher wusste sie das alles, wenn nicht von dir oder Suse?«
»Bin ich James Bond?« Sebastian sah mich spöttisch an. »Keine Ahnung, woher sie das hat. Vielleicht ja von ihm.«
Der letzte Satz sollte ein Witz sein, eine zynische Bemerkung, aber mir wurde plötzlich furchtbar schlecht. Ich schloss die Augen und dachte an Lucians Worte auf der Dachterrasse des Bunkers.
Es gibt jemanden, dem ich von mir erzählt habe. Und es gibt ein paar Dinge, die ich herausgefunden habe.
Konnte es sein, war es möglich, dass dieser Jemand Janne war?
Meine Mutter?
Bilder schossen in meinem Inneren empor, wie eine Diashow, eins nach dem anderen.
Der Flohmarkt. Jannes Buch, das Buch über Träume, das sie verschenkt hatte an jemanden, der so aussah, als hätte er keinen Cent in der Tasche. Jannes schräge Art, die sie in den letzten Wochen draufhatte. Ihre wilden Kochorgien, um sich auf andere Gedanken zu bringen. Ihre seltsamen Seitenblicke, ihre übertriebene Sorge – bis hin zu der Ohrfeige, die sie mir in jener Nacht an der Elbe verpasst hatte. Der Hausarrest.
Es passte. Auf absurde Weise passte plötzlich alles zusammen. Es machte Sinn, aber gleichzeitig war es auch undenkbar. Lucian ging zu meiner Mutter? Dann würde sie ja alles wissen – nicht nur das, was ich ihr verschwiegen hatte, sondern auch das, was er mir nicht erzählt hatte: Lucians Probleme, seine Ängste – und die Antwort auf seine Fragen, die er mir auf dem Maskenball über meinen ersten Schultag gestellt hatte.
»Oh Gott«, murmelte ich. Das Fotoalbum. Hatte Janne es weggenommen?
»Rebecca?« Sebastian tippte mich an. »Ich bin verdammt sauer auf dich. Aber ich mach mir Sorgen. Was ist das für ein Typ? Was weißt du von ihm?«
Ich sah Sebastian an. Seine Augen flackerten. Plötzlich wirkte er schutzlos, als ob sich seine innere Rüstung aufgelöst hätte. Eine warme Welle durchflutete mich. Am liebsten wäre ich zu ihm unter die Bettdecke gekrochen.
»Nicht viel«, murmelte ich. »Er . . . er hat sein Gedächtnis verloren. Er hat keine Ahnung, wer er ist. Aber irgendwie scheine ich ihn anzuziehen. Und er . . .« Ich senkte den Kopf. »Und er mich.«
»Das habe ich bemerkt«, sagte Sebastian. Er lächelte schief. Es war ein enttäuschtes Lächeln und seine Stimme war leise. »Also hast du ihn doch an der Elbe gesehen auf Suses Geburtstagsparty?«
Ich nickte. »Ich bin ihm quasi in die Arme gelaufen. Es war so unheimlich. Aber ich kann mich nicht dagegen wehren. Ich will dir nicht wehtun, Sebastian, wirklich nicht. Aber da ist etwas, das ich nicht verstehe. Er . . . weiß Dinge von mir.«
Ich umschloss meinen Anhänger mit den Fingern. »Er kennt Details aus meiner Kindheit. Ich glaube, er hat selbst keine Ahnung, woher. Wenn wir uns begegnen, dann fühle ich mich . . .«
»Hey. Halt.« Sebastian legte einen Finger an die Lippen und seinBlick war sehr entschlossen. »Nach deinen Gefühlen habe ich nicht gefragt. Wenn du die loswerden willst, dann bitte nicht bei mir. Dazu hast du eine beste Freundin. Wenn du die nicht auch vor den Kopf gestoßen hast.«
Ich biss mir auf die Lippe. Volltreffer.
Wir schwiegen einen Moment.
Sebastian strich sich das nass geschwitzte Haar aus der Stirn und seufzte. »Okay«, sagte er. »Nehmen wir mal an, es stimmt, was du sagst. Wie kommt dann deine Mutter dazu, das alles zu wissen?«
Ich erzählte von dem Buch, dem Flohmarkt und meinen Vermutungen, dass sich Lucian ihr anvertraut hatte.
Doch Sebastian schüttelte wieder den Kopf. »Warum sollte er ihr erzählen, dass er sich mit dir trifft? Damit würde er doch ins offene Messer laufen. Hat Janne nicht mit dir darüber gesprochen?«
»Sie schweigt wie ein Grab. Aber jetzt kann ich mir zumindest erklären, warum sie so schräg drauf ist.«
»Und was willst du jetzt tun?« Sebastian sah mich an. »Ich weiß es nicht«, sagte ich nach einer Weile.
Aber es stimmte nicht. Ich wusste es genau.
ZWÖLF
Janne zog zwischen ihren beiden Leben, wie sie Arbeits– und Privatleben nannte, eine strenge Grenze. Früher, als ich noch in den Kindergarten ging, war sie nur halbtags in der Praxis gewesen. Die Schreibtischarbeit nahm sie mit nach Hause.
Aber jetzt blieb bis auf Notfälle alles, was
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