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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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Hausaufgaben zu machen, und fluchte, weil ich mich nicht mal auf die dämlichsten Übungen konzentrieren konnte.
    Meine Mutter war seltsam aufgekratzt. Stur hangelte sie sich trotz Krücke und gebrochenem Knöchel die Wendeltreppe nach oben und verkündete (heute war sie die Mittwochskönigin), dass sie sich einen Spieleabend wünschte.
    Wir spielten Kanasta und Scrabble. Ich kicherte hysterisch, als ich die Buchstaben L, U, C, I, A, N auf meiner Bank zu seinem Namen anordnete, versuchte eine geschlagene Viertelstunde, ein Anagramm aus ihnen zu bilden, aber es gelang mir nicht, also verteilte ich die Buchstaben in den Worten Luchs und Anis. Wir hörten Mozart. John Boy und Jim Bob zwitscherten im Takt, und als Spatz das Wort Kalender legte, wusste ich plötzlich, wie ich mit meinen Fragen weiterkommen würde.
    Ich brauchte einfach nur zu warten, bis meine Mutter und Spatz ins Bett gingen.
    Ausgerechnet heute fand Janne kein Ende. Als sie nach der fünften Scrabblerunde endlich gähnte, war es kurz vor halb zwölf.
    »Was ist mit dir?«, fragte sie mich, als Spatz ihr hochhalf. »Bist du noch nicht müde?«
    »Ich will noch Nachrichten sehen«, log ich. »Wegen der Wahlen in den USA.«
    Spatz nickte. Sie war schon den ganzen Abend in Hochstimmung, weil sie übernächste Woche ihr neues Atelier beziehen würde. »Er wird es«, sagte sie. »Obama wird gewinnen. Jede Wette.«
    Ich zappte mich zu NTV durch, wo die Vorbereitung für die Präsidentschaftswahlen in vollem Gang waren. Es sah gut aus für Obama, alle glaubten an ihn, alle glaubten an die Wende, an sein leuchtendes Yes, we can – aber mir war sein Sieg in diesem Moment so egal wie irgendwas. Ich brauchte nur eine Ausrede, um ungestört hier oben zu bleiben.
    Als mir Janne und Spatz von unten eine gute Nacht zuriefen und John Boy und Jim Bob ihre Köpfe unter ihr Federkleid steckten, machte ich mich an Jannes Sekretär zu schaffen, der einst meiner Urgroßmutter gehört hatte.
    Janne hatte sehr an Moma gehangen, denn meine Urgroßmutter hatte ihr das gegeben, was Janne von ihrer eigenen Mutter nie bekommen hatte: Anerkennung, Zärtlichkeit, Zuspruch. Als sich Jannezum ersten Mal in ein anderes Mädchen verliebte, hatte sie ihr Herz bei Moma ausgeschüttet – und Moma war es auch gewesen, die Janne dazu ermunterte, ihrem Wunsch nach einem eigenen Baby nachzugehen und Psychologie zu studieren.
    Moma hatte in Düsseldorf gelebt, in einer kleinen Mansardenwohnung mit Balkon und Blick auf den Rhein. Obwohl sie längst zu alt war, um die vielen Treppen zu steigen, wehrte sie sich beharrlich gegen einen Umzug. Janne und ich besuchten sie jedes Jahr in den Frühlingsferien. Ich erinnerte mich an Momas falsche Zähne, die sie abends in ein Glas Wasser auf ihren Nachttisch stellte, und ich erinnerte mich, dass sie eine Schwäche für Kö- Diamanten hatte. Das waren mit Jamaika-Rum gefüllte Pralinenkugeln aus Bitterschokolade, Marzipan und Trüffelmasse. Janne musste sie bei Otto Bittner, einer Düsseldorfer Konditorei, kaufen. Während Moma auf ihrem geblümten Sofa saß und – zu meiner Faszination am liebsten zahnlos – ihre Pralinen naschte, erzählte sie mir Geschichten aus ihrer Kindheit und fragte mich nach meiner aus.
    Kurz nach meinem zehnten Geburtstag starb Moma an einer Lungenentzündung. Ein junger Mann aus ihrem Haus, der ihre Einkäufe erledigte und ihr die Post brachte, fand sie in ihrem Bett.
    Moma hinterließ ein paar Tausend Euro, viele Bücher und ihre Möbel, von denen meine Mutter nur den Sekretär haben wollte. Wir brachten ihn in Jannes Kombi nach Hamburg.
    Ich wusste, dass in einer der Schubladen der geblümte Karton mit den Briefen sein musste, die Janne an Moma geschrieben hatte. Ganz unten in der Kiste fand ich endlich, wonach ich suchte. Janne hatte damals einen weißen Fotokalender mit Bildern aus meiner Kindergarten- und Grundschulzeit an meine Urgroßmutter geschickt.
    Ich blätterte mich durch die Monate. Das Bild von meinem ersten Schultag fand ich im August. Es war ein sonniger, wolkenloser Morgen. Ich stand vor der Schule. Hinter meinem Rücken sah ich einen Ausschnitt der weißen Stofffahnen, auf denen mit bunter Farbe die Namen der Erstklässler standen. Meine Haare waren zu Zöpfen geflochten und mein Blick war in die Kamera gerichtet, er war konzentriert und meine Arme waren fest um die Schultüte geschlungen, die rot war, rot mit weißen Punkten. Mein Kleid aus himmelblauem Frottee hatte mitten auf der Brust einen Aufdruck in

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