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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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mit ihrer Arbeit zu tun hatte, in Eimsbüttel, dem Stadtteil, in dem Jannes Praxis lag. Er war eine halbe Fahrradstunde von unserer Wohnung entfernt und an Freitagen im Sommer, wenn ich nach der fünften Stunde Schulschluss hatte, holte ich Janne manchmal ab, um mit ihr die Mittagspause zu verbringen.
    Ähnlich wie Ottensen glich Eimsbüttel einem Dorf in der Stadt. Alles, was man zum Leben brauchte, war hier auf engem Raum versammelt. Buchläden, Boutiquen, Apotheken, Fischläden, türkische Obst–und Gemüsehändler, Eiscafés und jede Menge Restaurants mischten sich zwischen die schönen Altbauten. Janne hatte drei Lieblingsorte, die wir abwechselnd besuchten. Das Vespers , wo es den besten Caesar Salad Hamburgs gab, das Esszimmer , einen Feinkostladen mit täglich wechselndem Mittagstisch, und Nico , einen kleinen, familienbetriebenen Italiener, der unverschämt leckere Nudeln kochte. Wenn die Sonne schien, saßen wir draußen an langen Klapptischen und anschließend machten wir oft einen Einkaufsbummel durch das Viertel. Alle paar Meter wurde Janne von irgendwem gegrüßt und die Restaurantleute nannten sie beim Vornamen.
    Janne liebte es, mir Läden oder Häuser zu zeigen, die sie in diesem Viertel mochte. Sie nahm mich mit zum Einkaufen, wenn sie etwas gesehen hatte, von dem sie glaubte, dass es mir stand (womit sie meistens richtig lag), und wenn sie mich jemandem vorstellte, klang immer Stolz in ihrer Stimme mit.
    Nur in ihrer Praxis hielten wir uns selten auf. Sie lag im Eppendorfer Weg, zwischen dem Italiener und dem Feinkostladen in einem hübschen Altbau mit einer hellgelben Fassade und bunten Blumen vor den Fenstern. Aber immer wenn ich Janne abholte, fühlte ich mich abgewiesen. Es kam mir vor, als könnte sie mich nicht schnell genug nach draußen schleusen.
    Früher hatte mich das oft geärgert. »Was soll das?«, hatte ich meine Mutter gefragt. »Hast du Angst, ich laufe einem Psycho über den Weg?«
    »Nicht direkt«, hatte Janne geantwortet. »Ich will dich einfach nicht mit alldem hier in Verbindung bringen. In diesen Wänden steckt ziemlich viel Leid, auch wenn sich das vielleicht komisch für dich anhört.«
    Das tat es. Ich hielt Jannes Haltung für reichlich abgedreht, aber ich fand mich damit ab.
    Als ich am Donnerstagmorgen die Schule schwänzte, um mit Jannes Ersatzschlüssel (den sie ebenfalls in Momas Sekretär aufbewahrte) in ihre Praxis zu gehen, war meine Mutter noch zu Hause. Sie hatte um halb zehn einen Arzttermin, Spatz wollte sie dorthin bringen. Ich würde also knapp zwei Stunden Zeit haben, bevor sie im Eppendorfer Weg aufkreuzte. Wenn sie überhaupt heute kam.
    Es war Viertel nach acht. Ein kalter Morgen, knapp fünf Grad, aber die Sonne schien. Der Himmel war von einem klaren dunklen Blau. Auf den Gehwegen lagen Kastanien, prall und glänzend. Eine Gruppe von Kindergartenkindern zockelte Hand in Hand und angeführt vonzwei Erzieherinnen an mir vorbei. Ein kleines Mädchen jaulte auf, als ihm eine Kastanie auf den Kopf fiel. Es hatte dicke schwarze Zöpfe und ein rundes Gesicht.
    »Annalena weint«, rief der Junge neben ihr und gleich darauf kam eine Erzieherin, um die Kleine zu trösten.
    Als ich die Haustür aufschloss, zitterten meine Finger so sehr, dass ich eine Weile brauchte, bis der Schlüssel im Schlüsselloch einrastete. Jannes Praxis lag im ersten Stock.
    Die Treppenstufen knarrten, als ich nach oben ging. Auf der Hälfte der Treppe kam mir eine ältere Dame entgegen. Sie lächelte mich an und ich hastete an ihr vorbei in den zweiten Stock. Ich hoffte, dass sie mich nicht als Jannes Tochter erkannte.
    Als ich sicher war, dass die Frau das Haus verlassen hatte, schlich ich wieder nach unten.
    Wie ein Einbrecher, der ich letztendlich ja auch war, schob ich mich in den quadratischen Flur. Neben der Garderobe stand eine hohe Glasvase mit drei langen Zweigen, an denen rote und gelbe Herbstblätter leuchteten. Links vom Flur lagen die Küche und Toilette, rechts das kleine Wartezimmer und gegenüber der Behandlungsraum mit dem angrenzenden Büro. Die beiden Zimmer waren durch eine Flügeltür voneinander getrennt. Als Erstes fiel mir der neue Teppich auf. Weiß und flauschig lag er in der Mitte des Behandlungsraums und sah aus wie eine vom Himmel gefallene Wolke. Von Leid oder Verzweiflung war nichts zu spüren. Alles wirkte klar und freundlich.
    Vor den Fenstern standen sich ein hellbrauner Ledersessel und ein gemütlicher Liegesessel aus Rattan gegenüber. An seinem

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