Lucian
tiefen, äußerst behaglichen Hypnosezustand . . . Wie fühlen Sie sich?«
Keine Antwort.
»Gut«, sagte Janne leise. »Sie machen das gut. Wir lassen es langsam angehen. Sie gehen zurück. Weit, weit zurück. Zum ersten Erlebnis, das in Ihrem Gedächtnis auftaucht . . . Was sehen Sie?«
»Da . . . ist ein Gebäude.«
Lucians Stimme klang gedämpft, weit entfernt.
»Was sehen Sie?« Das war wieder Janne, diesmal deutlich angespannter.
»Fahnen. Da sind lange weiße Fahnen. Mit Namen. Vornamen. »Können Sie die Namen vorlesen?«
»Josefine. Karlotta. Tom. Christiane. Susanna. Leon. Rebecca.« Pause. Ein leises Stöhnen.
»Was noch?« Jannes Stimme zitterte. »Was sehen Sie sonst noch?«
»Da sind Kinder«, hörte ich Lucian murmeln. »Viele Kinder. Eltern. Da ist mein Mädchen. Es hat schwarze Zöpfe und trägt ein blauesKleid mit einem aufgedruckten Fisch. Einem Goldfisch. Mein Mädchen hält eine Schultüte im Arm. Sie ist rot . . . mit weißen Punkten. Das Mädchen schaut zu jemandem hoch. Einem Mann. Er hat dunkle Haare, genau wie das Mädchen. Es ist der Mann vom Fluss. Er hat etwas in der Hand. Eine Kette. Sie liegt in seiner geöffneten Handfläche. Die Kette hat einen Anhänger. Eine . . . Sonne. Der Mann dreht sie um. Auf der Rückseite steht etwas geschrieben . . .«
»Was?« Jannes Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. »Was steht auf dem Anhänger?«
»Ich . . . weiß nicht. Der Mann sagt etwas. Er sagt . . . Carpe Diem. Seize the day.
Das Mädchen runzelt die Stirn. Es sagt: That sounds funny.
Der Mann lächelt. Er streicht dem Mädchen über das Haar. Er sagt:
But it isn’t. It is wise. You will get the meaning some day. Now go. This is your day! Mommy and I will pick you up later.«
Pause.
Mein Mädchen. Lucian hatte mein Mädchen gesagt. Es ging mir durch und durch, obwohl ich mittlerweile jenseits von Aufregung und auch jenseits von Ungläubigkeit war.
Lucian sprach weiter: »Das Mädchen dreht sich um. Sie geht fort. Ihre Zöpfe wippen. Ich laufe hinter ihr her. Ich hole sie ein. Aber ich kann sie nicht ansprechen.«
Eine lange Pause.
»Das . . . das war gut.« Janne räusperte sich. Ihre Stimme wirkte zum Zerreißen gespannt. »Versuchen Sie, noch ein Stück weiter zurückzugehen.«
Schweigen. Kurz darauf ein Murmeln.
»Was sehen Sie?«
»Nichts. Es ist . . .« Lucian klang zögernd. » . . . es ist dunkel . . . und jetzt . . . ein Licht. Ein Strahl, es ist . . . eine Taschenlampe. Ich liege . . . in einem Bett. Das Mädchen ist direkt neben mir. Seine Haare sind verwuschelt. Es greift nach etwas . . . einem Buch. Da ist ein Boot. Da sind Palmen. Da ist . . . ein Monster. Das Mädchen sagt: Ich les dir was vor . Ich kann nämlich lesen . . .«
»Spricht das Mädchen . . . mit Ihnen?« Jannes Stimme.
»Ich weiß es nicht. Ja. Nein. Ich weiß es nicht. Es hat etwas im Arm . . . ein kleines Schaf oder . . . nein . . . es ist ein Bär . . . Die Tür geht auf. Jemand kommt herein, ich kann nicht erkennen, wer . . . es ist eine Frau . . .«
Janne hustete. Lucian brach ab.
Ich wusste, von welchem Buch er sprach. Wo die wilden Kerle wohnen. Lucian hatte das Buch nicht gefunden, er hatte davon geträumt . Und die Frau in der Tür, das musste Janne sein – deren Stimme auf dem Band plötzlich furchtbar hektisch wurde.
»Verlassen Sie diesen Ort«, drängte sie. »Gehen Sie noch weiter zurück. In Ordnung.« Ich hörte sie erleichtert aufseufzen. »So ist es gut. Wo sind Sie jetzt? Sagen Sie mir, was Sie nun sehen.«
Diesmal war die Pause sehr lang. Und als Lucian weitersprach, war seine Stimme so leise, dass ich mein Ohr an das Gerät pressen musste, um ihn zu verstehen.
»Ein Zimmer. Ein . . . Raum, aber kein Wohnraum. Eine Schwingtür. Metall . . . Da sind Stimmen. Und dann . . . jetzt . . .«
»Was?« Jannes Worte waren ebenfalls kaum zu verstehen. »Was geschieht jetzt?«
»Ich will nicht weiter.« Lucians Stimme wurde plötzlich laut und energisch.
»Okay.« Man konnte Jannes Enttäuschung deutlich spüren. Sie holte ihn zurück, bat ihn, die Augen zu öffnen, und fragte: »Vielleicht machen wir beim nächsten Mal weiter?«
»Vielleicht.«
Beide schwiegen.
»Wie sah es in den letzten Tagen aus?«, wollte Janne schließlich wissen. »Haben Sie das Mädchen noch einmal getroffen?«
»Nein.«
»Gut.« Ich hatte Janne noch nie so erleichtert gehört. Hatte Lucian denn wirklich nichts gemerkt?
»Ich glaube, es ist besser so«, sagte meine Mutter. »Es wäre falsch,
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