Lucian
damit, dass er hier gewesen war? War meine ganze Suche verrückt?
Es musste etwas hier sein. Musste, musste, musste.
Ich zog Schubladen und Fächer auf, immer hektischer, immer verzweifelter (so musste sich ein Junkie–Einbrecher auf der Suche nach Stoff fühlen), aber alles, was mir ins Auge sprang, waren dicke Mappen und Ordner, die ich unmöglich Stück für Stück durchforsten konnte. Das würde Tage dauern. Auf meiner Stirn stand kalter Schweiß, ich musste aufs Klo, ich hatte Durst. Und keine Zeit.
Die Holzskulptur mit dem unheimlichen Doppelauge hatte mich noch immer fest im Blick, ich starrte zurück, verbissen, wütend und entschlossen – und dann: fiel es mir ein. Ich stürzte auf die Skulptur zu, drehte an dem mittleren Klotz, einmal, zweimal, dreimal, und fand die kleine Klappe, die für den bloßen Betrachter unsichtbar war.
Spatz hatte Janne damals damit aufgezogen, dass sie sich ein Geheimfach anschaffte in einer Praxis, in der sie sowieso allein war. »Das ist kein Versteck«, hatte Janne ihr geantwortet. »Das ist ein Ort für besondere Dinge.«
Ich drückte gegen das Holz. Die Klappe sprang auf, mit einem satten, schmatzenden Klacken. Im hohlen Innenraum lagen drei Gegenstände: das Album, nach dem ich gesucht hatte, das Aufnahmegerät und ein schwarzer Lederband mit einem goldenen L auf dem Rücken.
Für einen Moment wusste ich nicht, wo ich anfangen sollte. Ich griff nach dem Aufnahmegerät, ließ es aber gleich darauf wieder fallen. Ich zögerte, warf einen nervösen Blick auf die Uhr und entschied mich schließlich für den Lederband.
DREIZEHN
8.10.2008
Letzte bewusste Erinnerung: Nachts unter Brücke.
Nackt!
(Amnesie, Langzeitgedächtnis?!)
Keine Vermisstenmeldung. Kein Pass, keine p. Wertgegenstände.
Kein Name
Kontakt zu mir:
Buch über Träume, Flohmarkt
Name/Adresse im Telefonbuch gefunden
Sprachverständnis intakt!
Spricht deutsch und englisch (amerik. Akzent) fließend. Außerdem:
mäßig französisch und spanisch (Gymnasium?)
Straßen, Umgebung: fremd.
Menschen: fremd.
Ausnahme: »Da ist ein Mädchen«
Ca. sein Alter. Zufällige Begegnungen, mehrere.
»Kann man jemanden kennen, den man nicht kennt?«
Träumt von kleinem Mädchen, ca. 5 Jahre alt.
Im Traum: Kleines Mädchen und er unter Wasser. Flosse, Haifisch.
(Kleine Schwester? Ertrunken? Schock?)
Sein Gefühl beim Aufwachen: Starke Sehnsucht und Schuld.
»Ich darf nicht hier sein.«
Fazit, erste Stunde: Amnesie wirkt glaubwürdig. Keine sichtbaren Verletzungen. Intensiver Blick. Ausweichend in Bezug auf das Mädchen, das er getroffen hat – gleichzeitig spürbar aufgewühlt, wenn er von ihr spricht. Hat Kette erwähnt, die Mädchen trug. Kommt ihm bekannt vor. Wollte nichts mehr darüber sagen. Extrem misstrauisch. Sehr intelligent. Vertrauen aufbauen! Langsam!!!
Die letzten Sätze waren mit einem anderen Stift geschrieben, auch das Schriftbild war weniger hastig als zuvor. Wahrscheinlich hatte Janne sich diese Notizen nach der Sitzung gemacht.
Ich ließ das Buch sinken. Ich hatte recht gehabt. Lucian war hier gewesen. Er hatte sich tatsächlich meiner Mutter anvertraut. Und das gleichaltrige Mädchen, dem Lucian begegnet war – das war ich. Ob Janne das gewusst hatte? Hier schon? Eher nicht, oder?
Ich nahm mir den Band noch einmal vor und überflog abermals die Zeilen. An dem Traum von dem kleinen Mädchen blieb ich hängen. Meine Mutter hatte es für eine ertrunkene Schwester gehalten. Wo mochte das gewesen sein? Im Meer? Deshalb der Hai? Lag Janne richtig? Konnte dieses Erlebnis den Schock verursacht haben, der zu Lucians Gedächtnisverlust geführt hatte? Und wenn ja, hatte das kleine Mädchen, seine kleine Schwester . . . vielleicht Ähnlichkeit mit mir?
Ich wischte mir die feuchten Hände an der Jeans ab und blätterte zurück. Der 8. Oktober war der Mittwoch nach dem Flohmarkt gewesen. Auch hier hatte ich richtig vermutet. Lucian war an unserem Stand gewesen, als ich durch die Halle gebummelt war, um für Janne und mich etwas zu trinken zu holen. Hatte er unseren Stand vor oder nach unserer Begegnung entdeckt? Wann auch immer – auf jeden Fall hatte er Jannes Buch über Träume gefunden und meine Mutterhatte es ihm geschenkt. Und offensichtlich hatte er dann die Praxisadresse über den Namen meiner Mutter herausgefunden.
Es war unfassbar, dass Lucian hier gesessen hatte. Es war unfassbar, was ich hier las.
Ich schlug die Seite um.
11.10.2008
Begegnungen mit gleichaltr. Mädchen anhaltend
Nach wie vor keine
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