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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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fließenden, zeitlupenartigen Bewegung. Als sie direkt vor meinem Gesicht waren, drehte er sie in derselben langsamen Bewegung um und dann lagen beide Handflächen geöffnet vor mir.
    Es war das erste Mal, dass ich wirklich und bewusst auf die Innenfläche seiner Hände schaute, und ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er mir zeigen wollte.
    Dann begriff ich.
    Die Linien, die Muster, die vielen verschlungenen, winzigen Pfade, die jeder Mensch in seinen Handflächen, auf den Fingern und Fingerkuppen trägt, fehlten.
    Lucians Handflächen waren glatt.
    »Verstehst du jetzt«, brach er die Stille zwischen uns, »verstehst du jetzt, was ich damit meine, wenn ich sage: Ich weiß nicht, wer ich bin?«

SIEBZEHN
    Ich blieb die ganze Nacht bei ihm.
    Ich rief erst Suse an und dann Janne, der ich sagte, dass ich bei Suse übernachten würde. Janne willigte ein, sie schien auch diesmal keinen Verdacht zu schöpfen. Und selbst wenn, Suse würde mich decken.
    Suse stellte mir keine Fragen, wofür ich ihr unendlich dankbar war. Sie ließ sich die Adresse geben, nur für den Fall, sagte sie, und ich versprach, sie gleich am nächsten Morgen anzurufen.
    Die kurze Zeit, während ich telefonierte, waren die einzigen Minuten, in denen Lucian und ich voneinander getrennt waren. Ich war in sein Zimmer gegangen, er im Flur geblieben. Danach klebten wir aneinander wie siamesische Zwillinge.
    Wir setzten uns auf sein Bett, so dicht nebeneinander, wie es nur ging, und durch die Seite meines Körpers, die seine berührte, floss ein warmer, beständiger Strom.
    Lucians linke Hand lag geöffnet in meiner, während ich mit den Fingerspitzen meiner anderen Hand ihre glatte, makellose Innenfläche erforschte. Ich war völlig fasziniert davon, wie es sich anfühlte, wie Seide oder Marmor, wie ein unbeschriebenes Blatt Papier.
    Es dauerte eine Weile, bis wir wieder Worte fanden.
    »Woher wusstest du . . . dass du anders bist?«, flüsterte ich. »Hast du es gleich gemerkt? Gleich nachdem du unter der Brücke . . .«
    »Nein«, unterbrach mich Lucian. »Anfangs war es mir nicht klar.Richtig bewusst wurde es mir erst bei der Kellnerin in dem Diner, wo ihr mittags immer hingeht. Als sie mir den Teller hinstellte, entdeckte ich die Linien in ihrer Hand. Sie waren ziemlich tief, fast wie Narben kamen sie mir vor, und ich muss sie wohl ziemlich überrascht gemustert haben, denn die Kellnerin fragte, ob ich ein Handleser sei. Sie sagte es im Scherz und ließ ihre geöffnete Hand für einen Moment neben dem Teller auf dem Tresen liegen. Vielleicht wollte sie auch nur mit mir flirten, keine Ahnung. Ich weiß nur, wie ich im ersten Moment dachte, dass an ihr etwas unnormal sei. Aber dann fing ich an, anderen Menschen auf die Hände zu schauen. Und ziemlich bald wurde mir klar, dass ich der Abnormale war.«
    Ich dachte wieder an den Abend am Falkensteiner Ufer. Auch meine Hände hatte Lucian angestarrt.
    »Vielleicht . . .«, sagte ich, »ist es einfach ein genetischer Defekt. Ein Erbfehler oder so was.«
    »Ein Erbfehler?« Lucians Finger schlossen sich um meine. »Dann möchte ich gerne wissen, von wem ich das geerbt haben könnte. Der Besitzer der Bar, in der ich arbeite, lässt mich seinen Computer benutzen. Ich habe im Netz recherchiert, aber ein Mensch ohne Handlinien oder Fingerabdrücke ist mir nicht untergekommen.« Er lachte leise. »Vielleicht sind meine Eltern ja Außerirdische. Das könnte ich deiner Mutter vorschlagen, wenn ich sie das nächste Mal besuche.«
    Erschrocken sah ich ihn an.
    »Was ich nicht ernsthaft vorhabe«, fügte er hinzu. »Und das mit dem Abhauen?«
    Ich krallte meine Hand um sein Handgelenk und merkte, wie sehr ich mich noch immer davor fürchtete, dass er aufstehen oder mich wieder wegschicken könnte.
    »Ich gehe nicht fort«, sagte er und legte seinen Arm um mich.»Nicht ohne dich jedenfalls. Was ist, brennen wir durch? Wie wär’s mit Rio de Janeiro?«
    War er immer schon so schön gewesen? Mit angehaltenem Atem betrachtete ich sein Gesicht mit der schmalen Nase, den hervortretenden Wangenknochen, den langen dunklen Wimpern und den nachtblauen Augen, bis ich bemerkte, dass auch er mich unverwandt musterte.
    »Was ist?«, fragte ich. »Warum siehst du mich immer so an?« Er runzelte die Stirn. »An dir ist auch etwas anders.
« Ich schluckte. »Wie meinst du das?
« Er zuckte mit den Achseln, dann schüttelte er den Kopf.
    »Ich weiß es nicht, ich kann es nicht in Worte fassen, obwohl es mir schon ein paar

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