Lucy im Himmel (German Edition)
das Gesicht liefen. Während unserer Ehe hatte ich ihn nur ein einziges Mal weinen sehen. Er war kein Mensch, der seine Emotionen zur Schau trug, deshalb hatte es mich auch so erschüttert, wie gebrochen er vor meinem Grab gestanden und geweint hatte. Schnell schaute ich zu Bea, um zu sehen, wie sie es aufnahm. Sie war jedoch nach dem anstrengenden Tag erschöpft in seinen Armen eingeschlafen.
»Bist du es wirklich, Lucy?«, fragte er leise.
Ja, Gregor. Ich bin es. Das alles hier ist keine Illusion! , tippte ich in den Computer.
Er gab einen herzzerreißenden Schluchzer von sich, in dem die gesamten Qualen des letzten Jahres vereint waren. Aber alles, was er sagte, war: »Warum?«
Weil das Leben so funktioniert. Ich hielt einen Augenblick inne, dann tippte ich die erste und einzige schriftliche Liebeserklärung an ihn:
Mein über alles geliebter Schatz,
du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr es mich freut, dass mir die Möglichkeit gegeben wurde, noch einmal auf die Erde zurückzukommen und dir das hier nun sagen beziehungsweise schreiben zu können: Die Zeit mit dir war wunderschön – auch, wenn sich herausgestellt hat, dass uns leider kein so langes gemeinsames Leben vergönnt war, wie wir es uns beide vorgestellt hatten. Wir wollten zusammen alt werden. Daraus wurde leider nichts. Doch auch mit dem Wissen, das ich heute habe, würde ich alles noch einmal ganz genau so machen, wie wir es getan haben. Es war die schönste Zeit meines Lebens. Ich habe dich über alles geliebt. Es ist mir sehr wichtig, dir das einmal ganz ausdrücklich sagen zu können, damit du es für immer weißt. Ich danke dir von Herzen für die wundervollen Jahre mit dir.
Die sind nun allerdings vorbei. Man kann die Uhr nicht zurückdrehen. Nicht einmal die Engel im Himmel können das. Du und ich, wir haben keine gemeinsame Zukunft. Bald werde ich dahin zurückgehen, wo ich nun hingehöre. Du dagegen wirst hier bleiben – und, wie ich hoffe, ein neues Leben mit Bea beginnen. Ich habe sie kennengelernt und mich sofort mit ihr angefreundet. Sie ist ein herzensguter Mensch – genau wie du – und ich fühle, dass ihr sehr, sehr gut zusammenpasst. Ich wünsche euch ein langes, glückliches, gemeinsames Leben ... und vielleicht ja auch ein paar Kinder? Du bist noch lange nicht zu alt, um eine Familie zu gründen. Denk in den kommenden Wochen mal darüber nach. Bea hat jedenfalls den besten Mann der Welt verdient: dich!
»Danke.« Wieder standen ihm Tränen in den Augen. »Ich hatte bis vor kurzem ein enorm schlechtes Gewissen wegen dir. Egal was ich getan habe, pausenlos musste ich daran denken, wie gerne wir es zusammen gemacht haben und wie unfair es ist, dass wir es nicht mehr gemeinsam erleben können.
Ich weiß, Gregor. Ich weiß. Aber du brauchst dir meinetwegen keine Gedanken zu machen. Mir geht es gut im Himmel.
Plötzlich klingelte es an der Tür. Es war Viertel vor zwölf. Wir zuckten zusammen, sogar Bea wachte auf. Wer konnte das so spät noch sein?
»Erwartest du Besuch?«, fragte mich mein Mann.
Ich schüttelte den Kopf. Dann erinnerte ich mich, dass er mich nicht sehen konnte und tippte: Nein .
Er stand auf und ging hinunter.
Nachdem er die Tür geöffnet hatte, vernahm ich eine mir sehr vertraute Stimme sagen: »Guten Abend, Herr Theiss. Sie werden mich wahrscheinlich nur vom Hörensagen kennen. Ich bin Erzengel Gabriel und möchte gerne ein paar Minuten mit Lucy sprechen.«
»Dein Chef?« Bea sah mich grinsend an.
Mir wurde heiß und kalt. Dass Gabriel sich höchstpersönlich auf die Erde herunterbemüht hatte, konnte nichts Gutes bedeuten. Wahrscheinlich wollte er mir eine gehörige Standpauke halten, weil ich mit meiner heutigen dilettantischen Arbeit nicht nur das Ansehen sämtlicher Engel verunglimpft, sondern alle himmlischen Missionen in ernsthafte Gefahr gebracht hatte. Und wenn er mich genügend zusammengestaucht hatte, würde er mich wohl sofort mit in den Himmel nehmen. Jetzt war ich es, der Tränen in die Augen stiegen.
»Lucy?«, hörte ich Gregor rufen. »Kommst du bitte runter?«
Meine Schonfrist war abgelaufen. »Ich glaube, ich werde abgeholt ...«
Bea sah mich mit weit aufgerissenen Augen an, dann kämpfte sie sich aus dem Bett. »Das wollen wir erst mal sehen!«
Ohne auf ihren lädierten Knöchel zu achten, der ihr höllische
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