Lucy in the Sky
die längste Zeit deines Lebens. Nach so einer langen Zeit dorthin zurückzukehren und dann wieder so schnell wegzumüssen, ist doch garantiert schwierig.«
Ich nicke, während er die Serviette nimmt und mir damit die feuchten Wangen abtupft.
»Sorry«, murmle ich. Ich muss an Nathans raue Hände denken, wie wir bei der Hochzeit unter dem Bambusstrauch standen. Aber dann wende ich meine Aufmerksamkeit wieder James zu, und allmählich versiegen die Tränen. Er sieht mich freundlich an. Seine Augen haben die gleiche Farbe wie seine Jeans.
»Ich freue mich so, dass du wieder hier bist, Schätzchen. Hier, trink einen Schluck Wein.« Er drückt mir mein Glas in die Hand. »Lass das Essen nicht kalt werden.«
Langsam geht er zu seinem Stuhl zurück und gibt sich alle Mühe, mir noch mehr Beachtung zu schenken. Nach dem Essen merke ich, dass ich immer noch erschöpft bin. Dort, wo ich gerade herkomme, ist es jetzt neun Uhr vormittags. James scheint ganz zufrieden mit der Idee, den Rest des Rugbyspiels anzuschauen, also gehe ich allein ins Bett. Erleichtert. Ich bin noch nicht bereit, mit ihm zu schlafen. Und ich weiß nicht, wann ich es wieder sein werde. Aber jetzt definitiv nicht.
Seit ich zurück bin, habe ich mich kaum richtig mit James unterhalten, und mir ist klar, dass ich mich zwingen muss, wieder normal mit ihm umzugehen, aber im Moment möchte ich mit meinen Gedanken allein sein.
Bald bin ich wieder in Nathans Zimmer, zusammen mit ihm in unserer Parallelwelt. Ich schlafe mit dem Vorsatz ein, von ihm zu träumen. Aber leider träume ich überhaupt nicht.
Kapitel 11
Am nächsten Morgen wache ich so früh auf, dass ich zusehen kann, wie die Sonne aufgeht. Ich schnappe mir meinen Morgenmantel und schleiche auf Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer, weg von meinem schlafenden Freund, hinein ins Wohnzimmer, wo ich die Rollos hochziehe. Vor mir, am Ende der Straße, geht strahlend hinter fernen Dächern die Sonne auf – nicht so hell, dass es wehtut, aber wenn ich die Augen zumache, bleiben Dutzende kleiner Lichtpunkte zurück. Langgezogene dünne Wolken – vielleicht auch Kondensstreifen von längst verschwundenen Flugzeugen – werden von unten angestrahlt, sodass sie aussehen wie orangefarbene Blitze.
Nach einer Weile gehe ich zurück ins Schlafzimmer, wo James immer noch fest schläft. Er sieht so friedlich aus, und eine Welle der Zuneigung durchströmt mich. Als er gestern ins Bett gekommen ist, bin ich nicht mal aufgewacht – ich muss wohl völlig bewusstlos gewesen sein.
»James?« Ich reibe sanft seinen Arm.
»Häh?« Er schlägt die Augen auf und betrachtet mich verschlafen.
»Es ist Viertel nach sieben«, sage ich.
»Ach du Scheiße, ich muss los!« Er springt aus dem Bett und torkelt ins Badezimmer. Ich fange erst um halb zehn mit der Arbeit an, also hab ich noch jede Menge Zeit. Draußen ist schon wieder so ein schöner, heller Tag, dass ich vielleicht einfach zu Fuß gehe. Obwohl es auch recht kalt aussieht.
Ich arbeite in der Nähe von Soho Square, ein kleines Stück südlich der Oxford Street. Im Sommer ist das ein herrlicher Spaziergang von einer guten halben Stunde, aber im Winter und abends fahre ich meistens die drei Haltestellen mit der U-Bahn.
Als ich meine Tasche für die Arbeit packe, denke ich sogar an die Stifte mit den boxenden Kängurus für Chloe und Gemma. Auch meine hochhackigen Stiefel stecke ich ein, um die Turnschuhe, die ich für den Fußmarsch anziehe, nicht im Büro tragen zu müssen. Wenn ich jetzt losgehe, bin ich eine halbe Stunde früher da und kann noch die E-Mails anschauen, die sich in den letzten zwei Wochen angesammelt haben.
Am Square überquere ich die Straße. Ein Mann mit einer grünen Wollmütze und Rollerblades saust an mir vorüber, einen großen schwarzen Hund im Schlepptau, und wir wünschen uns einen guten Morgen. Meine Turnschuhe knirschen auf dem Kies, der ausgestreut worden ist, damit die Leute nicht auf dem Eis ausrutschen. Frost um diese Jahreszeit ist ungewöhnlich. Mir fällt der Sand in Nathans Kombi ein, und ich fühle mich mies, während ich die Marylebone Road hinunterwandere und beim West City Council Building links abbiege. Zwei Steinlöwen liegen zu beiden Seiten der Treppe und bewachen den säulengeschmückten Eingang. Die Stufen vor dem Standesamt sind mit Konfetti bestreut. Am Samstag muss es eine Hochzeit gegeben haben. So nett und passend Sams und Mollys Idee mit den Eukalyptusblättern war – ich mag die guten altmodischen
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