Lucy Sullivan wird heiraten
jetzt nicht mehr ein Herz und eine Seele seid, nachdem du... nachdem du... nachdem du... deine Familie zerstört hast.«
»Na?« fragte ich, als sie darauf nicht antwortete.
»Man hat mir zu verstehen gegeben, daß ich für den Altarschmuck nicht mehr erwünscht bin«, gab sie schließlich zu. Eine einzelne Träne lief ihr über die Wange und hinterließ eine schmale helle Linie dort, wo sie die ungeschickt aufgelegte Grundierungscreme auflöste.
»Geschieht dir recht«, schnaubte ich.
»Und sie wollten auch den Apfelkuchen nicht, den ich für den Kirchenbasar gebacken hatte«, sagte sie. Dabei liefen ihr weitere Tränen über das Gesicht, so daß es aussah wie das Längsstreifenmuster auf dem Bezug eines Liegestuhls.
»Auch das geschieht dir recht«, sagte ich hitzig.
»Vermutlich fürchten sie, es könnte ansteckend sein«, sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns. Ich sah sie kalt an, und nach einigen Sekunden verschwand ihr Lächeln.
»Du hast dir wirklich einen ausgezeichneten Zeitpunkt ausgesucht, mir das mitzuteilen«, sagte ich boshaft. »Wie soll ich jetzt ins Büro gehen und den ganzen Nachmittag arbeiten, nachdem ich das gehört hab?«
Das war niederträchtig von mir, denn Ivor war nicht da, und ich hätte ohnehin nichts getan. Aber darum ging es nicht.
»Tut mir leid, mein Kind«, sagte sie leise. »Aber ich wollte es dir gleich sagen. Auf keinen Fall solltest du es von einem anderen erfahren.«
»Nun, jetzt hast du es mir gesagt«, erklärte ich kurz angebunden und griff nach meiner Handtasche. »Vielen Dank und auf Wiedersehen.«
Ich legte kein Geld auf den Tisch. Mochte sie ruhig für mein belegtes Brot zahlen, schließlich hatte ich es ihretwegen nicht hinuntergebracht.
»Bitte warte, Lucy«, bat sie mich. »Geh noch nicht. Gib mir Gelegenheit, alles zu sagen. Weiter verlange ich nichts von dir.«
»Von mir aus. Red weiter«, sagte ich. »Das wird sicher sehr lustig.«
Sie holte tief Luft und begann: »Ich weiß, daß du deinen Vater immer mehr geliebt hast als mich...«
Sie ließ eine Pause eintreten, für den Fall, daß ich ihr widersprechen wollte. Ich schwieg.
»Für mich war das alles sehr schwer«, fuhr sie fort. »Immer mußte ich die Starke und Disziplinierte sein, denn er war dazu nicht bereit. Auch ist mir durchaus bewußt, daß du ihn immer als ausgesprochen lustig, mich hingegen als gemein und minderwertig angesehen hast. Aber einer von uns beiden mußte dir elterliche Geborgenheit bieten.«
»Wie kannst du es wagen«, brach es aus mir heraus. »Davon hat mir Dad doppelt soviel, ach, was sag ich, ZEHNMAL soviel gegeben wie du.«
»Aber er war so verantwortungslos...« wandte sie ein.
»Sprich mir nicht von Verantwortung«, unterbrach ich sie. »Und was ist mit deinem Verantwortungsgefühl? Wer wird sich um Dad kümmern?«
Die Antwort darauf kannte ich bereits.
»Warum sollte sich jemand um ihn kümmern müssen?« fragte sie. »Er ist erst vierundfünfzig, und ihm fehlt nichts.«
»Du weißt, daß man sich um ihn kümmern muß«, sagte ich. »Du weißt, daß er sich nicht um sich selbst kümmern kann.«
»Und warum nicht, Lucy?« fragte sie. »Viele Männer leben allein, Männer, die weit älter sind als er und sich trotzdem ohne weiteres um sich selbst kümmern können.«
»Aber Dad ist nicht wie andere Männer, das weißt du auch«, sagte ich. »Glaub bloß nicht, daß du dich auf diese Weise aus der Verantwortung stehlen kannst.«
»Und warum ist er nicht wie andere Männer?« wollte sie wissen.
»Das weißt du genau«, sagte ich wütend.
»Nein, das weiß ich nicht«, sagte sie. »Sag es mir.«
»Ich streite mich nicht länger mit dir herum«, sagte ich. »Du weißt, daß man sich um Dad kümmern muß, und damit hat sich’s.«
»Du kannst dich der Wirklichkeit nicht stellen, nicht wahr, Lucy?« fragte sie mich und sah mich mit ihren heiligmäßigen Rehaugen an, mit dem falschen Mitgefühl und der Sozialarbeiterinnen-Fürsorglichkeit, die mich immer auf die Palme brachten.
»Wem kann ich mich nicht stellen?« fragte ich. »Ich kann mich allem stellen. Du redest noch größeren Unsinn als sonst.«
»Er ist ein Trinker«, sagte sie leise. »Dem kannst du dich nicht stellen.«
»Wer soll ein Trinker sein?« fragte ich, angewidert von ihrer Art, die Wirklichkeit zu verdrehen. »Dad ist kein Trinker. Ich sehe, worauf du hinauswillst. Du meinst, du kannst ihn beschimpfen und schreckliche Sachen über ihn behaupten, damit die Leute Mitleid mit dir haben und
Weitere Kostenlose Bücher