Lucy Sullivan wird heiraten
Fall, daß sich Chris oder Peter angeboten hätten, würde ich darauf bestanden haben, es alleine zu machen. Doch die faulen Kerle dachten nicht im Traum daran, etwas in der Richtung zu tun. Die bloße Vorstellung jagte beiden einen gehörigen Schrecken ein. Sie hätten auch gar nicht besonders viel tun können – meine Mutter hatte beide vom Tag ihrer Geburt an umsorgt, so daß sie kaum imstande waren, einen Besen in die Hand zu nehmen, geschweige denn einen ganzen Haushalt. Ein Wunder, daß sie wenigstens gelernt hatten, sich die Schuhe zuzubinden. Zwar war ich in Haushaltsdingen kaum bewanderter als sie, wußte aber, daß ich es irgendwie schaffen würde. Ich würde lernen, wie man Fischstäbchen zubereitet, nahm ich mir voll Leidenschaft vor, ich würde es mit Liebe tun.
Alle versuchten mir eine Rückkehr nach Uxbridge auszureden. Karen und Charlotte wollten nicht, daß ich auszog – und das keineswegs nur wegen der damit verbundenen Mühe, eine passende neue Mitbewohnerin zu finden.
»Deinem Vater fehlt doch überhaupt nichts«, sagte Karen verständnislos. »Viele Männer sind allein. Wieso mußt du mit ihm zusammenleben? Du könntest ihn doch alle paar Tage besuchen und zum Beispiel dafür sorgen, daß eine Nachbarin bei ihm vorbeischaut. Deine Brüder könnten im Wechsel mit dir nach ihm sehen, oder so was.«
Ich konnte ihr nicht erklären, warum ich der Ansicht war, daß es in diesem Fall um alles oder nichts ging. Ich mußte es richtig machen. Ich würde zu ihm ziehen und mich um ihn kümmern, wie sich noch niemand um ihn gekümmert hatte, so, wie es immer hätte sein müssen. Ich war richtig froh, ihn für mich allein zu haben, und freute mich darauf. Ich grollte meiner Mutter wegen ihrer Wankelmütigkeit, hatte aber eigentlich nichts anderes von ihr erwartet. Im Grunde war ich erleichtert, daß sie endlich von der Bildfläche verschwunden war.
»Wie schrecklich, zurück zu deinen Eltern zu ziehen«, sagte Charlotte mit allen Anzeichen des Entsetzens. »Ich meine, zu deinem Vater«, fügte sie rasch hinzu. »Überleg doch mal, Lucy – wann kannst du schon mit ’nem Mann ins Bett gehen? Hast du keine Angst, daß dein Vater da reinplatzt und sagt, daß du so was unter seinem Dach nicht machen darfst?« Ohne zu merken, wie ich mich wand, plapperte sie weiter: »Womöglich mußt du sogar nach Hause kommen, wann er es für richtig hält, dir vorschreiben lassen, was du anziehen darfst und was nicht. Du mußt dir Sprüche anhören wie ›so geschminkt siehst du aus wie ’ne Hure‹ und so weiter.« Sie faßte ihre Ansicht in die Worte zusammen: »Du bist total bescheuert!«
Ihre Haltung hing wohl damit zusammen, daß ihr Auszug aus ihrem Elternhaus noch nicht allzu lange her und die Erinnerung an die harte Hand ihres Vaters noch zu frisch war. Sie genoß ihre neu erworbene Freiheit noch in vollen Zügen, jedenfalls an den Tagen, an denen sie sich nicht vor Schuldgefühl ihren Selbstmordgedanken hingab.
»Und was ist, wenn sich dein Alter ’ne neue Freundin zulegt?« wollte sie wissen. »Ist das nicht widerlich, wenn du da die beiden überraschst und mitkriegst, wie er es treibt?«
»Aber...« versuchte ich einzuwerfen. Die Vorstellung, daß mein armer Dad eine Freundin haben könnte, war grotesk. Fast so komisch wie der Gedanke, ich könnte einen Freund haben. Ein Freund stand nicht zur Debatte. Daniels Kuß war ein Ausrutscher gewesen, eine nie wiederkehrende Gelegenheit, wie sie das Leben ein einziges Mal bietet. Greifen Sie zu, solange der Vorrat reicht.
Nachdem uns Dad bei unserem Kuß überrascht hatte, sah er uns einen Moment mißbilligend an. Wie es sich gehört, senkten wir schuldbewußt die Köpfe. Dann ging er wieder, und Daniel und ich bemühten uns, zur Normalität zurückzukehren. Ich wartete, daß sich mein Puls und mein Atem beruhigten, und Daniel wartete, daß seine Erektion nachließ und er wieder normal gehen konnte (das merkte ich erst später). Ein Bild stummer Befangenheit, saßen wir nebeneinander auf dem Sofa. Ich wäre am liebsten gestorben. Es war ganz und gar entsetzlich.
Ich hatte mit Daniel geknutscht. Geknutscht. Mit Daniel. Und war dabei von meinem Vater erwischt worden – wie beschämend! Irgendwo in meinem Inneren würde ich wohl mein Leben lang eine Vierzehnjährige bleiben.
Auf jeden Fall stand ich mehr oder weniger unter Schock, denn immerhin hatte meine Mutter Dad verlassen. In gewisser Hinsicht konnte es mich also eigentlich nicht wirklich schockieren,
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