Lucy Sullivan wird heiraten
er.
»Von mir aus«, sagte ich. Ich war so mitgenommen, daß ich nicht die Kraft hatte, aufzubegehren. »Was willst du?«
»Was du dir leisten kannst...« sagte er bescheiden.
»Ach so«, sagte ich kalt. »Ich soll zahlen?«
»Na jaaaaa«, sagte er.
»Aber du hast doch dein Geld erst vor zwei Tagen gekriegt«, sagte ich. »Was hast du damit gemacht?«
»Ach, Lucy«, lachte er. Es klang ein wenig häßlich. »Du bist wirklich die Tochter deiner Mutter.«
Bedrückt verließ ich das Haus. Mir war schlecht. Bin ich wirklich wie meine Mutter? fragte ich mich. Im Schnapsladen kaufte ich ihm eine Flasche echten Whiskey statt des billigen Fusels aus Osteuropa, den er sich gewöhnlich holte. Da ich immer noch unbedingt Geld für ihn ausgeben wollte, kaufte ich außerdem vierzig Zigaretten, vier Schokoladenriegel und zwei Tüten Tortilla-Chips.
Als sich meine Ausgaben für ihn auf insgesamt zwanzig Pfund beliefen, konnte ich wieder ruhig atmen. Angesichts dieser Verschwendung durfte ich sicher sein, daß keinerlei Ähnlichkeit zwischen meiner Mutter und mir bestand.
Unaufhörlich mußte ich an Dr. Thorntons Worte denken. Ich wollte ihm nicht glauben, doch mir blieb keine Wahl. Zuerst versuchte ich mir Dad so vorzustellen wie immer und dann als Alkoholiker. Das zweite Bild paßte besser. Es paßte in jeder Hinsicht.
Dr. Thornton hatte den ersten Dominostein umgeworfen, und die übrigen polterten rasch hintereinander her.
Wie verschütteter Rotwein auf einem weißen Tischtuch zog das Wissen eine Spur in meinem Leben bis zurück zu meiner frühesten Erinnerung und befleckte alles. Das mußte so sein, denn es war befleckt.
Stets hatte ich mein Leben, meinen Vater und meine Familie verkehrt herum betrachtet, und mit einem Mal war das Bild richtig herumgedreht. Ich konnte mich der Wirklichkeit nicht stellen.
Am schlimmsten war, daß sich in meinen Augen jetzt auch das Aussehen meines Vaters verändert hatte. Er sah aus wie jemand, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich versuchte das zu verhindern, wollte nicht, daß das Bild des Mannes, den ich liebte, vor meinen Augen verblaßte und verschwand. Ich mußte ihn lieben, er war alles, was ich hatte.
Verstohlen sah ich ihn immer wieder an, ging in Gedanken alles durch, was geschehen war, achtete auf alle Zeichen. Ich versuchte diesen Vorgang zu steuern, immer nur ein kleines Stückchen meines Lebens auf einmal zu betrachten, das Unangenehme in handliche Portionen und mundgerechte Happen zu zerlegen. Ich versuchte mich zu schützen, damit mich nicht der Verlust des Ganzen in den Untergang riß.
Aber ich sah ihn nicht mehr so wie vorher. Ich konnte nicht anders. Er wirkte nicht mehr liebenswert, umgänglich, anschmiegsam und wie jemand, mit dem man viel Spaß haben kann. Statt dessen wirkte er betrunken, anstößig, unfähig, nachlässig und selbstsüchtig.
So wollte ich nicht von meinem Vater denken. Es war unerträglich. Er war der Mensch, den ich mehr als alle anderen liebte, vielleicht der einzige, den ich je wirklich geliebt hatte. Und jetzt ging mir auf, daß der Mensch, den ich so vergöttert hatte, überhaupt nicht existierte.
Kein Wunder, daß er in meiner Jugend immer so lustig gewesen war. Es ist nicht schwer, verspielt und schelmisch zu sein, wenn man betrunken ist. Kein Wunder, daß er so viel gesungen hatte, kein Wunder, daß er so viel geweint hatte.
Das einzige, was mich davor bewahrte, den Verstand zu verlieren, war die Hoffnung, ihn ändern zu können.
Nur wenn ich mir sagen konnte, daß seine Trunksucht heilbar war, war ich imstande, sie mir zögernd einzugestehen.
Ich hatte davon gehört, daß manche Alkoholiker von ihrem Leiden loskommen. Ich mußte lediglich herausfinden, was ich dazu tun mußte. Ich würde ihn davon losbekommen. Dann wäre mein Vater wieder da, und alle wären glücklich.
71
N och einmal ließ ich mir einen Termin bei Dr. Thornton geben. Ich war voller Hoffnung und überzeugt, daß es eine Möglichkeit gab, Dad zu retten.
»Können Sie ihm irgendwas verschreiben, damit er nicht mehr den Wunsch hat zu trinken?« fragte ich, weil ich voll Vertrauen war, daß es so etwas gab.
»Ich kann Ihnen nichts verschreiben, was Sie ihm geben können«, sagte er.
»Na gut«, sagte ich eifrig, »dann bring ich ihn mit, und Sie können ihm ein Rezept geben.«
»Sie verstehen mich nicht«, sagte er ärgerlich. »Es gibt kein Mittel gegen Trunksucht.«
»Nennen Sie es nicht so.«
»Warum nicht? Das ist es doch.«
»Und wie geht das dann
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