Lucy Sullivan wird heiraten
Nervenbündel war, sollte er den Eindruck haben, ich könnte es nicht erwarten, mit ihm ins Bett zu steigen.
»Äh, komm mit«, murmelte ich mit einer Stimme, von der ich hoffte, daß sie unbeteiligt klang.
Mir war klar, daß mein Verhalten nicht unbedingt vernünftig war. Ich hatte in meine leere Wohnung einen mir völlig Fremden mitgenommen, einen Mann, einen in hohem Maße befremdlichen Fremden. Sollte er mich vergewaltigen, ausrauben und ermorden, wäre ich selbst schuld. Allerdings verhielt sich Gus nicht wie jemand, der auf Vergewaltigung und Raubmord aus war. Er tanzte in meinem Zimmer herum, öffnete sämtliche Schubladen, las die Kreditkarten-Abrechnungen und bewunderte die Einrichtung.
»Ein richtiger offener Kamin!« rief er begeistert. »Weißt du, was das bedeutet, Lucy Sullivan?«
»Was?«
»Wir schieben unsere Sessel ganz dicht da ran, setzen uns hin und erzählen uns im Schein des flackernden Feuers Geschichten.«
»Eigentlich benutzen wir den Kamin nicht, weil der Abzug erst mal gerei...«
Aber er hörte schon nicht mehr zu, denn jetzt hatte er den Schrank geöffnet und schob einen Kleiderbügel nach dem anderen zur Seite.
Mit den Worten »Ah, ein Waldschratmantel« zog er einen alten langen Samtumhang mit Kapuze hervor. »Wie findest du mich?«
Er probierte ihn an (es schien alles zu sein, was er probieren wollte), stülpte sich die Kapuze über den Kopf, stellte sich vor den Spiegel und ließ den Umhang um seinen Körper schwingen.
»Herrlich«, lachte ich. »Er paßt zu dir.«
Er sah ein wenig wie ein Elf aus, allerdings ein ziemlich verlockender Elf.
»Du lachst mich aus, Lucy Sullivan.«
»Niemals.«
Das entsprach der Wahrheit, denn ich fand ihn hinreißend. Mich entzückte seine leicht entflammbare Begeisterung, die Art, wie ihn alles interessierte, seine ungewöhnliche Sicht der Dinge. Es gibt kein anderes Wort dafür – ich war wie verzaubert.
Außerdem war ich ausgesprochen erleichtert, daß er Verkleiden spielte, statt zu versuchen, mich ins Bett zu zerren. Ich fand ihn sehr anziehend, doch schien es mir einfach ein bißchen früh dafür. Aber da ich ihm erlaubt hatte, mit zu mir zu kommen, konnte ich ihm seinen Wunsch, mit mir zu schlafen, nicht abschlagen, sollte es ernst werden, jedenfalls nicht nach den üblichen Spielregeln.
Theoretisch war mir durchaus klar, daß ich nicht nur das Recht hatte, das jedem zu verwehren, mit dem ich nichts zu tun haben wollte, sondern es mir außerdem jederzeit anders überlegen durfte, aber in Wirklichkeit wäre es mir in einem solchen Fall viel zu peinlich gewesen, tatsächlich nein zu sagen.
Vermutlich hielt ich es für ungastlich, ihn sozusagen mit leeren Händen abziehen zu lassen, nachdem er schon den ganzen Weg auf sich genommen hatte. Das rührte von meiner Kindheit her, in der Freigebigkeit gegenüber Gästen auf der Wertetabelle unserer Familie ganz oben gestanden hatte. Beispielsweise war es unwichtig gewesen, ob wir selbst etwas zum Abendessen hatten, solange unsere Besucher nicht zu kurz kamen.
Außerdem kam es mir so vor, als gehörten Gus und ich irgendwie zusammen. Das war ziemlich verführerisch. Nicht nur wäre es unverzeihlich ungastlich von mir, nicht mit ihm ins Bett zu gehen, ich würde mich damit auch über das mir vorherbestimmte Schicksal hinwegsetzen und den Zorn der Götter auf mein Haupt herabbeschwören. Das zu wissen erleichterte mich in hohem Maße, enthob es mich doch beim leidigen ›Soll ich, oder soll ich nicht?‹ jeglicher eigenen Entscheidung. Mir blieb gar keine Wahl. Ich mußte. Es gab nichts zu entscheiden – alles war klar und einfach.
All das aber änderte nichts an meiner Nervosität. Vermutlich können die Götter nicht an alles denken.
Ich setzte mich auf die Bettkante und spielte mit meinen Ohrringen, während Gus im Zimmer umherging, Dinge zur Hand nahm, wieder hinlegte und haufenweise Kommentare abgab.
»Nette Bücher, Lucy, abgesehen von diesem kalifornischen Kram«, brummelte er, während er den Titel Wer bekommt das Auto in der gestörten Familie der Neunziger? von einem Buchrücken ablas. Ich freute mich, daß er zwar leicht exzentrisch, aber allem Anschein nach nicht komplett neurotisch war.
Ich legte die Ohrringe wieder an, damit ich sie erneut abnehmen konnte. Schon seit langem war mir bewußt, daß es in einer Situation möglicher Verführung von Vorteil war, Schmuck zu tragen, denn wenn ich ein Stück nach dem anderen ablegte, sah es so aus, als machte ich mit und wäre zu
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