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Lucy Sullivan wird heiraten

Lucy Sullivan wird heiraten

Titel: Lucy Sullivan wird heiraten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
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»Lucy«, flehte er. »Rette mich.«
    Die beiden Männer, die ihn gerade auf die Straße befördern wollten, hielten inne. »Kennen Sie diesen Mann etwa?« fragte Winston ungläubig.
    »Ja«, sagte ich gefaßt. »Vielleicht könnten Sie mir sagen, was hier vor sich geht?«
    Ich versuchte, gelassene Autorität in meine Stimme zu legen und zu verbergen, daß ich vor Verlegenheit fast starb. Es schien zu nützen.
    »Wir haben ihn im vierten Stock entdeckt. Er hatte keinen Besucherausweis und...«
    Im vierten Stock, dachte ich entsetzt.
    »Ich hab dich gesucht, Lucy«, erklärte Gus voll Leidenschaft. »Ich hatte das Recht, mich da aufzuhalten.«
    »O nein, mein Junge«, sagte Harry drohend. Man konnte sehen, daß es ihn in den Fingern juckte, Gus am Ohr zu ziehen und ihn wie einen Schornsteinfegerjungen aus einem Dickens-Roman zu behandeln. »Im vierten Stock war er, stellen Sie sich das vor. Als ob er der Chef persönlich wäre. Hat sich sogar in Mr. Balfours Sessel gesetzt. Seit achtunddreißig Jahren arbeite ich hier, hab als Bote angefangen. Aber so was hab ich noch nicht erlebt...«
    Der vierte Stock war für die Verwaltungsspitze der Firma Metall- und Kunststoffgroßhandel reserviert und in den Augen der Angestellten so etwas wie der Himmel. Am ehesten ließ er sich mit dem Büro des amerikanischen Präsidenten im Weißen Haus vergleichen.
    Ich war noch nie dort gewesen, weil ich viel zu unbedeutend war, doch Meredia hatte man einmal wegen eines Vergehens hinaufzitiert, und nach ihrem Bericht zu urteilen handelte es sich um ein luxuriöses Feenreich mit dicken Teppichen, eingebildeten Sekretärinnen, mahagonigetäfelten Wänden, an denen echte Gemälde hingen, lederbezogenen Sofas, Globen, die sich als Barschränke entpuppten, und einer stattlichen Zahl wohlbeleibter, kahlköpfiger Männer, die von Zeit zu Zeit die ihnen ärztlich verschriebenen Stärkungsmittel schluckten.
    Trotz meines Entsetzens mußte ich Gus’ Wagemut bewundern. Es war nicht zu übersehen, daß sein respektloses und lästerliches Verhalten Harry und Winston zutiefst erschüttert hatte, und so war es wohl besser, daß ich die Sache in die Hand nahm.
    »Danke, Männer«, sagte ich in einem Ton, von dem ich hoffte, er werde den beiden Wachleuten signalisieren, daß sie die Sache nicht so ernst nehmen sollten. »Es ist schon in Ordnung. Ich kümmere mich um ihn.«
    »Aber er hat immer noch keinen Besucherausweis«, sagte Harry rechthaberisch. »Sie kennen die Vorschriften. Wer keinen Ausweis hat, kommt nicht rein.« Er war eigentlich ganz nett, klammerte sich aber gern an die Vorschriften.
    »Wie Sie meinen« seufzte ich ergeben. Ich bat Gus, noch eine Weile am Eingang zu warten, bis ich ihn abholen konnte.
    »Wo?« fragte er begriffsstutzig.
    »Gleich da«, sagte ich und schob ihn mit zusammengebissenen Zähnen zum Eingang, wo eine Sitzgruppe stand.
    »Und hier passiert mir nichts?« erkundigte er sich besorgt. »Die kommen nicht wieder und schubsen mich rum?«
    »Setz dich einfach da hin, Gus.«
    Wutentbrannt stürmte ich zur Toilette. Ich ärgerte mich nicht nur deswegen über Gus, weil er mich in meiner Arbeit dem öffentlichen Gespött ausgesetzt hatte, sondern noch mehr darüber, daß er mich dem öffentlichen Gespött ausgesetzt hatte, bevor ich zurechtgemacht war.
    »Scheißkerl«, zischte ich. Vor Wut war ich den Tränen nahe. Mit knallrotem Gesicht versetzte ich dem Abfalleimer einen Tritt. »Verdammter mieser Scheißkerl!«
    Am liebsten wäre ich gestorben.
    Caroline hatte den Zwischenfall mit angesehen, und so würden binnen fünf Minuten alle im Gebäude darüber Bescheid wissen. Erst vor wenigen Tagen hatten alle über mich gelacht, und ich war nicht sicher, ob die Leute für eine Neuauflage bereit waren. Schlimmer aber war, daß mich Gus ohne Make-up gesehen hatte.
    Ich wußte, daß er ein wenig exzentrisch war, und es hatte mir sogar gefallen, doch auf die Szene, die ich da gerade mitbekommen hatte, war ich nicht im geringsten vorbereitet gewesen. Mein Vertrauen zu ihm war erschüttert, und das war für mich unerträglich. War es möglich, daß ich mich in ihm geirrt hatte? Würde auch diese Beziehung in einer Katastrophe enden? Würde mir Gus mehr Schwierigkeiten machen, als er wert war? Wäre es möglicherweise am besten, jetzt gleich Schluß zu machen?
    Das aber waren nicht die Gefühle, die ich Gus gegenüber haben wollte.
    Bitte, lieber Gott, laß mich nicht von ihm enttäuscht sein. Ich könnte das nicht aushalten. Ich

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