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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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Landstraßen über die Grenze nach Wisconsin. Und weiter ging es Richtung Norden, auf holprigen Kreisstraßen, durch eine sanft geschwungene Hügellandschaft mit versprengt liegenden Bauernhöfen und Kirchen. In einer Kleinstadt namens Helenville fanden sie |316| ein kleines Restaurant an einem See und aßen zu Mittag. Das Laub der Bäume war rot und gelb gefärbt. Sie waren die einzigen Gäste, und keiner, der auf der Straße vorbeiging, sah sich ein zweites Mal nach ihnen um.
    »Was denkst du?«, fragte Jenny.
    »Ich glaube, es ist alles okay.«
    Am Nachmittag fuhren sie stundenlang auf verlassenen Straßen. Keiner hätte ihnen folgen können, ohne dass sie es bemerkt hätten, dachte Jenny. Schließlich erreichten sie Milwaukee und fuhren in die Stadt hinein und bis zum Rand des bewaldeten Zoogeländes. Dort schlüpften sie durch einen der Hintereingänge für Mitarbeiter. Sie hatten Glück, niemand sah sie, und so konnten sie zu Fuß durch den Wald bis zum Bonobo-Gehege laufen. Dort warteten sie fast eine Stunde lang. Dann tauchte Donna auf, mit blauen Gummihandschuhen, schmutzigen Gummistiefeln und einer schweren Leinenschürze. Als sie die beiden sah, gab Donna ihnen ein Zeichen, zu warten. Sie verschwand im Gebäude, und als sie ein paar Minuten später wieder auftauchte, trug sie Jeans und eine Arbeitsbluse. Sie führte sie tiefer in den Wald hinein.
    »Hier können wir reden, glaube ich. Was ist passiert? Ist Lucy etwas zugestoßen?«
    Jenny und Amanda sahen sie verwirrt an.
    »Wie meinst du das?«, fragte Amanda. »Sie ist doch zu dir gekommen.«
    »Nein«, sagte Donna. »Ich habe nichts von ihr gehört.«
    »Du hast sie nicht gesehen?«, schrie Jenny auf, lauter als sie eigentlich vorgehabt hatte.
    Donna legte den Finger auf die Lippen und schüttelte den Kopf. »Hier war sie nicht. Erzählt mir, was passiert ist.«
    »Sie ist zu Hause aufgebrochen und sagte, sie wollte zu dir. Durch die Bäume, wie geplant.«
    |317| »Was? Wann war das?«
    »Vor Wochen«, erwiderte Amanda.
    »Es ist ungefähr zehn Tage her«, korrigierte Jenny.
    »Oh, Scheiße«, fluchte Donna. »Dann müssen sie sie geschnappt haben.«
    »Aber hätten wir das nicht erfahren müssen?«, fragte Jenny. »Ich meine, wenn jemand verhaftet wird, gibt es eine Akte.«
    »In diesem Fall wohl nicht. Es ist ja eine legale Grauzone, in der sie sich da bewegen. Es gibt ungefähr ein Dutzend Regierungsbehörden, die sie einfach so einkassiert haben könnten.«
    »Ohne es irgendwem zu sagen?«, fragte Amanda.
    Donna schüttelte den Kopf. »Du kennst diese Leute nicht.«
    »Können wir es nicht irgendwie herausfinden«, fragte Jenny.
    »Ich weiß nicht. Ich kann es bei meinen Kontakten zum Militär probieren. Ich weiß aber nicht, ob’s klappt.«
    Einen Augenblick lang standen sie schweigend da, jede in ihre eigenen Gedanken versunken. Jenny wurde richtiggehend übel vor Sorge bei dem Gedanken, dass Lucy irgendwo unter unvorstellbaren Bedingungen gefangen gehalten wurde.
    »Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun«, sagte Donna. »Wenn sie sie gefangen genommen haben, kann sie allein schon durch den Stress sterben. Wir müssen sie finden.«
    »Sie sagte, sie würde vielleicht jemanden töten müssen«, sagte Amanda. »Und dann hätten alle, die
sie
töten wollen, einen Grund dazu.«
    Die beiden Frauen starrten Amanda an.

|318| 34
    Lucy erwachte nass und zitternd auf einem Betonboden. Sie spürte einen heftigen Schmerz im Oberschenkel, und ihr Kopf hämmerte. Es roch nach Urin und Kot. Sie hörte das Summen und Zischen elektrischer Lampen direkt über sich, konnte die Augen aber nicht öffnen, weil sie völlig verklebt waren. Ihre Zunge und ihre Kehle waren so trocken, dass es schmerzte. Zuerst dachte sie, sie sei gelähmt. Obwohl ihr Verstand ihr riet, sie solle aufstehen, schien sie unfähig zu einer ersten Bewegung. Sie rollte die Zehen ein, ballte die Hände zu Fäusten. Langsam begannen ihre Muskeln sich wieder zu erinnern. Sie fühlte sich wund von Kopf bis Fuß. Dann stemmte sie sich auf einen Ellbogen, und endlich gelang es ihr, wenigstens ein Auge zu öffnen. Das Herz blieb ihr fast stehen. Überall war Blut. Nein, Moment: Da war auch Blau und Grün. Dann erinnerte sie sich, dass sie sich die Haare getönt hatte. Einiges davon hatte auf den Betonboden abgefärbt.
    Als die Welt um sie herum sich langsam zu einem erkennbaren Bild zusammensetzte, bemerkte sie, dass ihre Kleidung weg war. Sie sah Gitterstäbe vor sich. Schwarze Stahlstäbe.

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