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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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zusammengewachsen, seine Augen standen |310| eng beieinander und seine dünnen Lippen waren zusammengepresst, was ihm einen besorgten Zug um den Mund verlieh. Er trug einen dunklen Anzug, eine hellblaue Krawatte und eine kleine Anstecknadel der amerikanischen Flagge am linken Revers. Rasch blätterte er einige Unterlagen in der Ledermappe durch, die vor ihm lag, dann legte er die Handflächen auf den Tisch und erhob sich. Jetzt standen auch die anderen auf.
    »Meine Herren«, begann er, »lassen Sie uns nun Hochwürden Reverend Gerald Pinkus aus Plano, Texas, begrüßen. Herzlich willkommen, Gerry. Es ist ein Segen, Sie heute unter uns zu haben. Wenn Sie uns die Ehre erweisen und ein Gebet sprechen wollen? Ich glaube, heute ist ein guter Tag, unsere Aufmerksamkeit auf die Gegenwart des Bösen in unserer Mitte zu richten.«
    Die sechs Männer neigten die Köpfe, und einige falteten die Hände. Pinkus begann: »Oh Herr, voller Demut senken wir an diesem Morgen unser Haupt vor Deinem Angesicht und voller Sorge über dieses unheilverkündende Zeichen, das in diesen schon so unruhigen Zeiten in unserer Mitte erschienen ist. Finstere Wolken scheinen sich mit immer größerer Geschwindigkeit zu sammeln, und demütig bitten wir Dich um Beistand in dieser kritischen Zeit. Und wir bitten Dich, Herr, hilf, das noble Werk unseres Kollegen Senator Steven Rhodes rasch voranzubringen, damit wir das tun können, was wir tun müssen, um das Böse aus unserer Mitte zu vertreiben.« Er hob den Kopf und nickte dem Senator zu. Rhodes nickte ebenfalls, schob Pinkus eine Bibel über den Tisch zu und neigte dann wieder den Kopf. »Ich möchte mit einer Lesung aus dem Neuen Testament schließen.« Pinkus öffnete den Band an einer Stelle, die mit einem roten Bändchen markiert war. »›So ich aber die Teufel durch Beelzebub austreibe, durch wen treiben |311| sie eure Kinder aus? Darum werden sie eure Richter sein. So ich aber die Teufel durch den Geist Gottes austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.‹ Matthäus 12, Vers 27 und 28.« Er hielt kurz inne, schlug eine zweite Passage auf, ebenfalls mit einem roten Bändchen markiert, und las: »›Und ich sah aus dem Munde des Drachen und aus dem Munde des Tiers und aus dem Munde des falschen Propheten drei unreine Geister gehen, gleich den Fröschen; denn es sind Geister der Teufel, die tun Zeichen und gehen aus zu den Königen auf dem ganzen Kreis der Welt, sie zu versammeln in den Streit auf jenen Tag Gottes, des Allmächtigen.‹ Offenbarung 16, Vers 13 und 14.   Lassen Sie uns nun gemeinsam das Vaterunser sprechen. Vater unser, der Du bist im Himmel   …«

|312| 33
    Nachdem Dr.   Mayer weg war, machte Jenny Frühstück, doch nur aus reiner Gewohnheit. Weder Jenny noch Amanda mochten etwas essen. Die Ungewissheit machte ihnen zu schaffen   – sie wussten nicht, wo Lucy war und wie sie zurechtkam, ja, sie wussten nicht einmal, ob ihre und Donnas Befürchtungen real waren. Jenny und Amanda weinten immer wieder, trösteten sich gegenseitig, und wenn es alles zu viel zu werden drohte, brachen sie manchmal paradoxerweise in hysterisches Gelächter aus.
    Um die Mittagszeit klingelte das Telefon. Jenny sprang auf. Es war Harry. Sie traute sich nicht, etwas zu sagen, weil sie fürchtete, abgehört zu werden, daher tat sie so, als wäre alles in Ordnung. Er fragte, ob er irgendetwas tun könne, doch Jenny sagte nein und legte auf. Und was dann geschah, hätte einen schier in den Wahnsinn treiben können: nichts. Es geschah gar nichts. Die Polizei kam nicht. Die Rechtsradikalen kamen nicht. Die Welt drehte sich einfach weiter, als wäre nichts aus den Fugen geraten. Jenny bekam auch weiterhin Interviewanfragen für Lucy, die sie mit der Begründung ablehnte, dass Lucy an ihrem Buch arbeite.
    Das Wetter war schön, und Jenny verbrachte viele Stunden in einem Liegestuhl im Garten, eine Ausgabe von
Le Roi des aulnes
ungelesen im Schoß. Unwillkürlich musste sie daran denken, wie sie selbst gewesen war in Lucys Alter. Mit sechzehn war Jenny zur Highschool gegangen. Ihre Mutter war temperamentvoll und umtriebig gewesen und hatte sich mit |313| allem beschäftigt, wonach ihr der Sinn stand. Jennys Vater war in einem Blizzard beim Schneeschaufeln gestorben und hatte seine Frau gut versorgt und Jenny als introvertierten Bücherwurm zurückgelassen.
    Im folgenden Frühling entdeckte Jenny die Jungen, hatte aber noch keine Vorstellung davon, wozu sie gut waren. Ein Junge namens Dylan gab

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