Lucy
Teenager, hatte sich die Haare rot gefärbt.
Lucy suchte im Schrank der Eltern, doch die Kleidung war nicht geeignet. Auch im Zimmer des Teenagers, das auf der anderen Seite des Flurs lag, fand sie nichts, die Sachen des Mädchens waren zu groß. Lucy nahm eine Sonnenbrille und einen Hut mit. Dann hatte sie eine Idee: Sie ging ins Badezimmer |307| des Mädchens und durchsuchte die Schränke. Im Wäscheschrank schließlich fand sie Tuben mit Haartönung in Rot, Blau und Grün.
Ein Stück weiter den Flur entlang lag das Zimmer der jüngeren Tochter. Lucy hielt ein Stretchtop hoch, das in etwa ihre Größe hatte. Die Sonne ging schon auf, als sie ihre Sachen auszog und sich unter die Dusche stellte. Als das warme Wasser an ihr herabrann, empfand sie ein Gefühl enormer Erleichterung. Sie wusch sich und shampoonierte sich das Haar. Dann begann sie, sich bunte Strähnen in das noch nasse Haar zu färben, während sie den Vögeln zuhörte und eine Unruhe im Großen Strom spürte. Schließlich war es vollbracht, und sie hatte einen Schopf aus rotem, grünem und blauem Haar.
Im Zimmer der jüngeren Tochter suchte sie sich einen Stringtanga, eine rosa Jeans und blaue Crocs aus. Und sie zog sich das grüne Stretchtop an. Dann lauschte sie wieder. Die Vögel hatten ihr morgendliches Spektakel wieder aufgenommen. Sie nahm einen iPod und steckte sich die Stöpsel in die Ohren, setzte die Sonnenbrille und den Hut auf und prüfte dann ihr Äußeres im Standspiegel. Sie stellte sich geziert hin und sagte: »Süüüß.« Sie warf den Kopf in den Nacken und rief: »Voll krass!« Jetzt war sie sich sicher: Keiner würde sie erkennen.
Die Sonne schien schon über der ruhigen Wohngegend, als Lucy die Seitengasse entlang zur Straße ging. Einen Augenblick lang blieb sie stehen und sog tief die frische Morgenluft ein. Die Rasen waren noch feucht von Tau. Die Zeitungen lagen in Plastik gewickelt vor den Haustüren. Sie fühlte sich zuversichtlich. Sie fühlte sich wie ein echtes amerikanisches Mädchen.
Zuerst glaubte sie, dass sie von einer Biene gestochen worden sei. Dann blickte sie hinunter und sah einen Pfeil in ihrem |308| Oberschenkel stecken. Er war durch die rosa Jeans durchgedrungen. Als sie wieder aufsah, bemerkte sie ein Stück weiter die Straße hinunter einen blauen Lieferwagen. In der offenen Tür stand ein Mann und zielte mit einem Gewehr auf sie. Er hob den Kopf vom Zielfernrohr, um sie direkt anzusehen. »Miles Electric«, las Lucy. In ihren Ohren summte es, und ihr wurde schwindelig. Ihr blieb nicht einmal Zeit genug, um Angst zu haben. Sie war ganz damit beschäftigt, ihre Welt zusammenzuhalten, die in Einzelteile zu zerfallen schien. Ein Elektro-Van. Ein Mann. Ein Gewehr. Was bedeutete das? Dann trübte sich ihr Blick, und sie sackte schwer auf den Gehweg, von traumhafter Wärme durchflutet. Sie kippte hintenüber, ihr Kopf landete weich im noch feuchten Gras des Vorgartens. Der blaue Himmel und eine fröhlich vorüberziehende kleine Wolke waren das Letzte, was sie sah.
|309| 32
Nur sechs Männer saßen in dem großen Konferenzraum, in dem gewöhnlich zwanzig oder mehr Teilnehmer zur morgendlichen Sitzung erschienen. Sie saßen in ledernen Drehstühlen mit hohen Lehnen an einem riesigen Tisch. Das große Oberlicht spiegelte sich in der polierten Oberfläche. Kaffeekannen und Wasserkaraffen waren auf dem Tisch verteilt. Der Stuhl am Kopfende war leer. Die Männer warteten schweigend, machten sich Notizen oder waren mit ihren Blackberrys oder iPhones beschäftigt.
Ein breiter weißer Kamin beherrschte die Wand hinter dem Stuhl am Kopfende des Tisches. Auf dem Sims stand ein Plexiglasgehäuse mit einer Friedensnobelpreis-Medaille darin und einem Porträt von Theodore Roosevelt zu Pferd darüber. Hohe Ständer mit Ehrenbannern für Kriegsteilnehmer reihten sich zu einer Seite des Konferenztisches auf. Ein Gemälde des Platte River von Thomas Whittredge hing über einer pfirsichfarbenen Sitzgarnitur. Lampen auf Beistelltischen warfen ein gelbliches Licht auf die cremefarbenen Wände.
Genau um acht Uhr morgens war zu hören, wie sich die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors öffnete und wieder schloss, und einen Augenblick später trat mit schnellem Schritt ein kleiner Mann mit grau meliertem Haar in den Raum und deutete mit einer Handbewegung an, dass niemand sich die Mühe zu machen brauche, aufzustehen. Er setzte sich ans Kopfende des Tisches. Seine Augenbrauen waren über der Nasenwurzel
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