Lucy
Es tut mir leid, ich hätte dir das alles viel früher erzählen sollen. Ich hatte nur gehofft, dass ich schließlich bessere Neuigkeiten haben würde. Dass sie irgendwo in Sicherheit ist. Aber das ist sie nicht.«
Harry reichte Jenny das Baguette. »Hier, schneidest du das mal?« Jenny hatte nicht viel Appetit, aber Harry war gewöhnt an Tod und Leid. Sie kannte seine Haltung zum Leben: Schlimme Dinge werden immer passieren. Stärken wir uns, damit wir ihnen standhalten.
»Kann ich auch was helfen?«, fragte Amanda.
»Hol eine Flasche Wein aus dem Keller, wenn du möchtest.«
Amanda verschwand Richtung Kellertreppe.
»Harry, bist du sauer auf mich?«, fragte Jenny
»Nein, ich denke nur nach.« Harry überlegte noch eine |325| Weile, während Jenny das Brot schnitt. »Also, ich habe einen sehr guten Anwalt, falls du diesen Weg gehen willst. Und dann ist da noch dieser Senator.«
Amanda kam mit einer Flasche zurück und zeigte sie Harry. Er hob die Augenbrauen. »Chambertin Clos de Bèze? Ein Mädchen von Vermögen und Geschmack.«
»Ist das falsch? Tut mir leid. Es waren so viele Flaschen, dass ich nicht wusste, welche ich nehmen soll.«
»Nein. Das ist gut. Sehr gut. Warum nicht? Schließlich will man ja nicht vom Bus überfahren werden, im Rinnstein liegen und denken: Verdammt, hätte ich bloß noch den Chambertin Clos de Bèze getrunken.«
Amanda lachte. »Nicht schlecht, Harry. Ich hab schon ziemlich lange nicht mehr gelacht.«
»Ja? Willst du noch was zum Lachen hören? Bitte sehr: ›Chambertin Clos de Bèze bietet ein Bouquet verschiedener fruchtiger, würziger, blumiger und mineralischer Noten, die im Abgang lange nachklingen.‹ Das hat der Weinkritiker Robert Parker geschrieben. Oder jedenfalls so was Ähnliches.«
»Wie kannst du Witze reißen, Harry?«, sagte Amanda. »Wenn so was Schlimmes passiert ist.«
»Tja, mein liebes Kind, Lachen beruhigt die Amygdala.«
»Was ist die Amygdala?«
»Das ist der kleine Mandelkern in deinem Gehirn, der dich ausrasten lässt, wenn schlimme Dinge passieren. Dem sollte man aber besser gleich einen Dämpfer verpassen, damit man sich mit den schlimmen Dingen auseinandersetzen kann.«
»Wie schaffst du es bloß, so ruhig zu bleiben?«, fragte Amanda.
»Nun, ich beginne gern langsam und lass es dann ganz allmählich ausklingen. Lass den Wein ein bisschen atmen, ja?«
|326| Am nächsten Tag suchten sie Harrys Anwalt in seinem Büro in der LaSalle Street im Zentrum von Chicago auf. Sy Joseph war ein kleiner Mann um die fünfzig. Neben seinem alten Holzschreibtisch stand eine abgewetzte Ledertasche, in der er schon seit dem Jurastudium seine Akten herumschleppte. Papierberge türmten sich auf dem Parkettfußboden. Durch die vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster, die seit Jahren nicht geputzt worden waren, sah man auf die nichtssagenden Gebäude der belebten Straße hinaus.
»Ich habe einige Nachforschungen angestellt und glaube, ich habe eine Antwort«, sagte Joseph. »Zumindest teilweise. Wenn irgendeine Polizeiwache Lucy festgenommen hätte, wüssten wir davon. Die Polizei der Bundesstaaten, Bezirke und Städte ist noch an das Recht auf Haftprüfung gebunden. Andererseits, wenn eine der Regierungsbehörden sie hat, können sie mit ihr praktisch machen, was sie wollen.«
»Aber sie müssen sie doch eines Verbrechens anklagen und Akten über ihren Verbleib anlegen, oder?«, fragte Jenny.
»Nein, leider nicht. Unter den Bestimmungen des USA Patriot Act können sie jemanden tatsächlich unbegrenzt ohne Anklage und sogar ohne hinreichenden Verdacht festhalten.«
»Und was ist mit einem ordentlichen Gerichtsverfahren?«, fragte Jenny.
»Nun, wie schon erwähnt, das gilt für untergeordnete Polizeieinheiten. Und was ich Ihnen hier sage, gilt nur für den Menschen im traditionellen Sinne. Wenn Sie in Betracht ziehen, dass Lucy ein sogenannter interspezifischer Hybrid ist, dann betreten Sie unbekanntes Terrain – und das ist von keinem Gesetz abgedeckt. Die können ganz nach Gutdünken mit ihr verfahren.«
»Was machen wir jetzt denn nur?«, fragte Amanda.
|327| »Tut mir leid«, sagte Joseph. »Ich sage Ihnen nur das, was ich weiß.«
»Und was raten Sie uns, Sy?«, schaltete Harry sich ein.
»Ich würde Lucy bei der zuständigen Polizeiwache als vermisst melden. Die Bezirkspolizei hat noch Vorschriften und Regeln, und im Allgemeinen ziehen sie es immer noch vor, Verbrechen aufzuklären statt welche zu begehen.«
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Lucy sah zu, wie
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