Lucy
Sie drehte den Kopf. Überall um sie herum waren Gitterstäbe. Sie sah auf in das blendend grelle Licht über sich. Noch mehr Gitterstäbe. Sie war in einem Käfig.
»Oh nein.«
Atme, befahl sie sich. Mach nicht schlapp, nicht jetzt. Atme einfach und denk nach. Atme und denk nach. Sie spürte, dass ihr die Tränen kamen und sie kaum noch schlucken konnte. |319| Sie brauchte dringend Wasser. Es gelang ihr, die Tränen zu unterdrücken. Sei stark, befahl sie sich. Gib dich nicht preis. Jetzt bist du wieder im Dschungel. Denk nach, reagiere nicht nur.
Lucy griff nach den Gitterstäben, zog sich schwankend daran hoch und versuchte, sich an das zu erinnern, was geschehen war. Sie war durch den Wald gegangen, hatte ein Haus gefunden, ihr Haar getönt, die Sachen eines Mädchens gestohlen. Feuchtes Gras. Ein blauer Himmel. Eine kleine weiße Wolke. Dann: nichts mehr.
Moment, ein Pfeil. Sie sah an sich hinab. Ein großer blauer Fleck breitete sich auf ihrem rechten Oberschenkel aus. Sie rieb darüber, um zu sehen, ob es Haartönung war. Nein. In der Mitte war ein scheußliches Loch, das von Blut verklebt war.
Sich an die kalten Gitterstäbe klammernd, humpelte sie vorwärts und versuchte hinauszusehen. Sie war in einem Labor oder Operationssaal oder so was. Dort drüben stand ein Operationstisch mit ausgeschalteten Lampen darüber. Sie sah Gerätschaften aller Art, Stahlregale mit Flaschen, Leintücher. Durch ein hoch oben liegendes Oberlicht fiel noch letztes fahles Tageslicht herein. Was für ein Ort war das? So etwas hatte sie noch nie gesehen.
»Hallo«, rief sie. Dann lauter: »Hallo! Ist da jemand?« Sie hörte weit entfernte Geräusche, die gedämpft wurden von Türen und Wänden, konnte sie aber nicht erkennen. Dann sah sie sich im Käfig um auf der Suche nach einem Weg hinaus, doch die Stäbe waren solide verschweißt, und das Schloss sah respekteinflößend aus. Sie lief auf und ab. Mittlerweile fror sie entsetzlich, und sie schlang die Arme um den Körper. Warum war sie nass? Warum war sie nackt? Das alles ergab keinen Sinn.
Und dann erinnerte sie sich an den Sicherheitsmann am Flughafen, der ausdruckslos gesagt hatte: »Alle Tiere müssen |320| in einen Käfig gesperrt und im Frachtraum verstaut werden.«
Ich bin in einem Käfig, dachte Lucy, weil ich offiziell ein Tier bin.
Sie setzte sich, zitternd, und umklammerte ihre Knie. Wie konnten sie so etwas tun, fragte sie sich. Doch sie wusste es. Ihr Vater hatte es ihr alles erklärt. Als Lucy elf Jahre alt war, hatte er ihr
Aufstieg und Fall des Dritten Reiches
zu lesen gegeben. Nur langsam hatte sie begriffen, was da vor sich ging und was diese Leute anderen Menschen antaten. Sie hatte nicht weiterlesen wollen, doch ihr Vater befahl es ihr. »Lies«, sagte er. »Ich will, dass du weißt, womit du es zu tun bekommen kannst. Diese Leute sind nicht alle Hitler, nicht wahr? Einen Mann allein kann man leicht abtun. Aber fast achttausend Männer und Frauen haben Auschwitz betrieben. Kann man all die auch einfach abtun als kriminelle Psychopathen? Nein. Es sind Menschen. Das ist ihr Problem. Deshalb bist du hier. Um das zu ändern.« Danach hatte Lucy mit einer morbiden Faszination, mit Liebe, Bewunderung und Entsetzen, Anne Franks Tagebuch gelesen. Wie sehr hatte sie um Anne geweint. Ein ganz normales Mädchen, dachte sie, und so modern. Das sich, mitten in diesem furchtbaren Albtraum, in Peter verliebte und die Geschichten von Ödipus, Orpheus und Herkules las – all das Wissen, Annes so schöne und zartfühlende Seele, die einfach verschwand, als sie dahinsiechte in Auschwitz, aus dem Leben gerissen in der Blüte ihrer Jugend. Und das war das Mädchen, das schrieb: »Ich habe eine glückliche Natur, ich liebe die Menschen, bin nicht misstrauisch und will alle mit mir zusammen glücklich sehen.« Jetzt sagte Lucy sich: Sei stark. Halte den innersten Kern in dir aufrecht für das, was auch immer kommt. Sie können dir deine Freiheit nehmen, sie können dir Schmerzen zufügen, sie können dich |321| sogar töten. Doch es gibt eine letzte Bastion des Geistes, die sie bei Anne niemals töten konnten. Sie blieb bis zum Ende im Großen Strom. Aber trotz allem fühlte Lucy, wie tief ihre Furcht war. Dann hörte sie etwas. Stimmen. Gedämpft. Weit weg. Sie hielt den Atem an und lauschte.
»Du hast für Yamaguchi gestimmt?«, fragte eine Frau.
»Na klar hab ich für Yamaguchi gestimmt«, erwiderte eine andere. »Viermal. Ich hab die Wahlwiederholung wohl ’ne
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