Lucy
und ab, auf und ab. Nur mit Mühe konnte sie sich davon abhalten, wieder zu schreien und sich gegen die Gitterstäbe zu werfen. Sie musste hier raus. Es musste doch einen Weg geben! Aber ihr fiel nichts ein. Sie schien in zwei Hälften zu zerfallen, als würde sie eine psychische Spaltung durchmachen. Einerseits war da das schwache und weinende Kind. Aber andererseits war da auch noch eine kühle, rationale Stimme. Denk nach, sagte diese Stimme zu dem Kind. Du bist klug und stark. Hör auf zu wimmern und denk nach.
Sie ließ den Blick noch einmal schweifen. Jetzt sah sie, dass auf einem Rollwagen neben dem Operationstisch ein Tablett mit Instrumenten lag. Vielleicht könnte sie mit einem davon das Schloss des Käfigs öffnen. Aber sie hatte nichts, um dorthin zu reichen. Die Decke. Vielleicht konnte sie mit der Decke etwas von dem Tablett herunterwischen und es zu sich heranziehen. Sie wickelte sich aus der Decke, ergriff sie an einem Zipfel und schlug mit ausgestrecktem Arm nach dem Tablett. Ein ums andere Mal versuchte sie es, doch es war zu weit weg. Dann öffnete sich die Tür wieder, und Leute in grünen Operationskitteln kamen herein. Lucy erstarrte. Es waren zwei sehr stämmige Männer und drei Frauen. Sie alle trugen Mundschutz, Gummihandschuhe und durchsichtige Schutzbrillen.
Eine der Frauen öffnete einen Stahlschrank, holte ein Gewehr |334| heraus und trat einen Schritt vor. »Wenn du uns angreifst, müssen wir dir einen Pfeil verpassen. Sag mir, dass du das verstanden hast?«
Lucy konnte nicht klar denken. War es besser, mit einem Pfeil betäubt zu werden, als miterleben zu müssen, was sie mit ihr tun würden?
»Sag mir, dass du das verstanden hast, oder wir verpassen dir einen Pfeil.«
»Ich habe es verstanden.«
»Okay. Dann holen wir dich jetzt heraus, und du legst dich auf den Tisch da, verstanden?«
»Ja.« Sie zitterte so sehr, dass sie kaum sprechen konnte. Die Frau zielte weiter mit dem Gewehr auf Lucy, während eine andere die Käfigtür öffnete. Lucy zog sich ganz ans andere Ende zurück, als die beiden Männer hereinkamen.
»Komm schon«, sagte der eine. »Ganz ruhig.«
Lucy schätzte die Entfernungen ab. Sie wusste, dass sie schnell und stark genug war, um mit den beiden Männern fertig zu werden. Aber die Frau mit dem Gewehr war zu weit weg. Sie würde schießen. Lucy erkannte, dass dies nicht der geeignete Augenblick war. Also ließ sie Kopf und Schultern hängen. Das würden die anderen unbewusst als Zeichen dafür deuten, dass sie harmlos war. Ich mache es so wie beim Ringen, dachte sie. Ich verleite sie zur Nachlässigkeit und zeige meine Kraft erst im entscheidenden Augenblick.
Die Frau machte eine Geste mit dem Gewehr, und Lucy trat zwischen die beiden stämmigen Männer. Der Beton war nass und kalt unter ihren nackten Füßen. Das Gewehr folgte jeder ihrer Bewegungen.
»Rauf auf den Tisch, bitte.«
Lucy kletterte auf den Tisch. Sie spürte das weiche weiße Laken, roch das Waschmittel, sah das Oberlicht über sich.
|335| »Leg dich hin.«
Sie lag kaum auf dem Rücken, da schnappten Verschlüsse ein, und sie war mit Gurten fixiert. Einen Augenblick lang wehrte sie sich, dann zwang sie sich zur Ruhe. Nicht jetzt, sagte sie sich. Warte, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Jemand bedeckte sie mit einem Laken.
»Tun Sie es nicht. Lassen Sie nicht zu, dass er mich aufschneidet. Bitte.«
»Er wird dir nicht wehtun. Dr. Eisner macht das schon seit Jahren.« Die Frau drehte sich zu einem der Männer um und sagte: »Halten Sie ihren Arm fest.«
»Bitte nicht.«
Die Frau riss einen weißen Papierumschlag auf und holte eine lange Nadel heraus. Dann legte sie an Lucys Oberarm eine Gummimanschette an. Lucy spürte einen Stich und sah, wie die Nadel in ihren Arm eindrang. Tränen liefen ihr an beiden Seiten des Gesichts herab, und sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen.
»Wir geben dir etwas, damit du dich beruhigst. Atme einfach normal weiter.«
»Nicht. Bitte.«
Die Frau hielt eine Spritze ins Licht und schnippte mit dem Fingernagel dagegen. Das Geräusch vervielfältigte sich zu einem tickenden Echo in dem hohen gewölbten Raum. Licht reflektierte auf ihrer Schutzbrille, als sie sich vorbeugte und eine klare Flüssigkeit in den Katheter an Lucys Oberarm spritzte.
»Nicht. Oh …«
Lucy empfand eine träumerische Leichtigkeit. Sie schien sich tatsächlich in zwei Teile zu spalten, so als wollte der eine Teil von ihr in Panik ausbrechen, während dem anderen
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