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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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sich das schimmernde Tageslicht, das durch das Oberlicht hereinfiel, in kaum wahrnehmbaren Nuancen veränderte. Dann hörte sie wieder einen Schlüssel im Schloss. Herein kam ein dünner, bleicher Mann in einem Arztkittel und mit Mundschutz. Er hatte kurz geschnittenes silbergraues Haar, eine randlose Brille und wirkte fast schon penibel sauber. Seine Schuhe glänzten auf dem nassen Betonboden. »Dr.   L.   Eisner« stand auf seinem Namensschild. Er eilte herein und musterte Lucy mit einem missbilligenden Blick. Sie hörte, dass er leicht pfeifend durch die Nase atmete. Aber seine Absichten konnte sie nicht entziffern. Er sendete keinerlei Signale aus im Großen Strom.
    »Wer sind Sie? Warum bin ich in diesem Käfig?«
    »Tut mir leid. Pure Inkompetenz. Die harte Hand des Militärs. Ich bin selbst schockiert. Das lag ganz und gar nicht in meiner Absicht, versichere ich dir.«
    »Okay.« Lucy holte einmal tief Luft, um sich zu beruhigen. »Okay. Gut. Dann helfen Sie mir. Ich friere, und ich brauche Wasser.«
    »Ja, ja, natürlich. Einen Moment.« Er drehte sich um und verließ den Raum.
    »Hey, warten Sie! Wo bin ich hier?«
    Aber er war verschwunden. Lucy sank an die Gitterstäbe. Habe ich den Verstand verloren, fragte sie sich. Ist es das? Bin ich verrückt geworden von dem Stress und bilde mir das alles nur ein? Sie testete ihren geistigen Zustand. Wie heißt |329| du? Lucy Lowe. Wo wohnst du? In Illinois. Wer ist deine beste Freundin? Amanda. Welcher Tag ist heute? Sie wusste es nicht. Wer ist deine Mutter? Jenny. Nein, Leda. Ich weiß es nicht, dachte sie. Ich weiß gar nichts.
    Dann hörte sie wieder einen Schlüssel im Schloss. Der Mann kam zurück, mit einer Decke, einem Patientenkittel und einer Plastikflasche Wasser. Er legte die Sachen in einen Schacht an der Seite des Käfigs, dessen Tür sie erst öffnen konnte, nachdem er ihn von außen geschlossen hatte. Lucy trank die halbe Flasche aus, ehe sie auch nur einmal Luft holte. Dann zog sie den Patientenkittel an und wickelte sich in die Decke ein.
    »Das tut mir alles sehr leid. Ich habe strikte Anweisung gegeben, dass man dich human behandelt. Leider konnte ich selbst nicht hier sein.«
    »Wer sind Sie? Warum werde ich gefangen gehalten?«
    »Ich bin Dr.   Eisner. Und ich verspreche dir, dass du bald eine sehr viel bequemere Unterbringung bekommen wirst.«
    »Aber warum bin ich überhaupt hier?«
    »Zu deinem Schutz. Ich versichere dir, dass ich nur die besten Absichten habe.«
    »Ich wurde angeschossen und nackt auf dem blanken Boden liegen gelassen.« Lucy hörte, wie ihre Stimme schriller wurde. Hör auf, sagte sie sich. Streite nicht mit ihm. Versuch, ruhig zu bleiben.
    »Ja, das ist bedauerlich. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich verspreche dir, dass du von jetzt an während der gesamten Prozeduren human behandelt wirst.«
    Vielleicht ist er der Verrückte hier, dachte Lucy. Da er einen Mundschutz trug, hatte sie bislang nur seine Augen gesehen. Aber sie hatte genug gesehen. Sie versuchte, in normalem Ton weiterzusprechen. »Welche, welche, welche   –« Sie bekam das |330| Wort nicht heraus. »Welche Prozeduren? Wo sind wir? Was wollen Sie mit mir machen?« Kurz kam ihr der Gedanke, dass sie hinausgreifen und ihn am Arm packen könnte. Noch ehe er wüsste, wie ihm geschah, hätte sie seinen Schädel wie eine Schachtel Eier an den Gitterstäben zertrümmert. Sie konzentrierte sich auf ihren Atem. Zeig deine Kraft nicht, sagte sie sich. Lass ihn glauben, dass du schwach bist.
    Eisner musterte sie. »Bemerkenswert. Als ich dich zum ersten Mal im Fernsehen sah, wusste ich, dass mein lang gehegter Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Du bist, wie dein Vater sagen würde, menschlicher als der Mensch.«
    Lucy erschrak. »Woher wollen Sie wissen, was mein Vater gesagt hätte?«
    »Wir haben sie uns natürlich besorgt. Die Notizbücher deines Vaters. Denn die brauchen wir selbstverständlich«, sagte er, und als er den Ausdruck in Lucys Gesicht sah, fügte er hinzu: »Keine Sorge. Es war niemand zu Hause. Komplikationen will keiner. Wir haben es wie einen normalen Einbruch aussehen lassen.«
    Alle Hoffnung schwand dahin, als sie ihn in sprachlosem Entsetzen anstarrte. Gleichzeitig spürte sie Rage in sich aufsteigen. Kraft durchströmte sie. Sie zwang sich ganz bewusst, ruhig zu bleiben. Wenn sie herumzutoben begann, würde er vielleicht erkennen, wie gefährlich sie sein konnte. Zeig dich nicht, dachte sie. Weine. Brich in Tränen aus und lass ihn

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