Lucy
als ein Teenager. Lucy hielt sie für eine Puertoricanerin und sprach sie auf Spanisch an. Das Gesicht der jungen Frau hellte sich auf. Lucy horchte sie aus. |349| Sie kam aus Mexiko, wie sich herausstellte. Ihr Ehemann war Elektriker und arbeitete für die Luftwaffe. Aber er war ins Ausland geschickt worden, und sie hatte schon seit zwei Monaten nichts mehr von ihm gehört. Sie machte sich Sorgen, wie sie allein zurechtkommen sollte, wenn das Baby da war. Es sollte nicht in eine Krippe. »Ein Baby braucht doch seine Mutter«, sagte sie.
»Ja. Wir brauchen alle unsere Mütter. Sogar wenn wir keine Babys mehr sind. Haben Sie ein gutes Verhältnis zu Ihrer Mutter?«
»Claro que sí.«
»Yo también. Echo de menos a mi madre. Necesito regresar a ella.«
Die junge Frau sah Lucy mit abweisender Miene an. Sie hatte ein weiches Herz, aber Lucy erkannte, dass sie auch hart sein konnte. Sie schüttelte den Kopf. »No te puedo ayudar«, sagte sie. »Lo siento. Tengo que cuidar a mi bebé, y este trabajo es lo único que me queda.«
»Nein, nein«, erwiderte Lucy. »Das weiß ich. Ich will Sie nicht in Schwierigkeiten bringen.« Lucy musterte die junge Frau, die ihr Gesicht abwandte. »Wie heißen Sie?«
»Margarita. Aber alle nennen mich Rita.« Sie sah Lucy wieder an.
»Rita, der Name gefällt mir. Rita, bitte sagen Sie mir, wo wir sind. Das ist alles. Nur, in welcher Stadt.«
Rita starrte Lucy mit einem langen harten Blick an, wie ein Polizist. Dann beugte sie sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: »Alamogordo, New Mexico. Wir sind auf dem Luftwaffenstützpunkt Holloman.«
»Auf einem Luftwaffenstützpunkt? Was mache ich denn auf einem Luftwaffenstützpunkt?«
»Hier ist das Alamogordo Primaten-Forschungszentrum. |350| Ich und mein Mann wohnen auf dem Militärgelände. Aber jetzt, wo er weg ist, werden sie mich bestimmt rauswerfen.«
Natürlich, dachte Lucy. Ein Primaten-Forschungszentrum. Das erklärte alles. »Kann ich hier irgendwo einen Computer benutzen?« Wenn sie nur einmal einen Blick auf eine Karte werfen könnte, würde sie einen besseren Eindruck von dem Gelände gewinnen.
Rita sah Lucy seltsam an. »Was? Du bist ein Affe. Die haben mir gesagt, du bist ein Affe. Affen benutzen keine Computer.«
»Sehe ich aus wie ein Affe? Spreche ich wie ein Affe?«
»Nein.«
»Das ist alles ein großer Irrtum. Ich bin bloß ein junges Mädchen, so wie Sie. Ich bin hilflos und habe Angst. Sehen Sie mich an. Ich bin angegurtet. Helfen Sie mir.«
»Du weißt, wie man Computer benutzt?«
»Rita, ich habe zu Hause einen iPod und ein Notebook. Ich bin genauso wie Sie. Ich habe die Highschool abgeschlossen, eine amerikanische Highschool, und ich war sogar auf dem Abschlussball. Bitte, Rita. Die haben mir wehgetan. Und die werden mir wieder wehtun. Ich bin bloß ein junges Mädchen. Das ist alles ein ganz fürchterlicher Irrtum.«
Ritas Augen wurden immer größer, als sie Lucy anstarrte. »
Puta madre
. Dieser
pinche
Doktor. Ich wusste doch, dass der ein schlechter Mensch ist. Schon als ich den zum ersten Mal gesehen hab.« Dann sprang sie auf und lief hinaus.
»Rita, warten Sie«, rief Lucy. Aber sie war schon weg.
Am nächsten Tag wurde Lucy wieder von dem muskelbepackten jungen Pfleger und der dünnen Christin betreut. Doch am Abend kam Rita wieder und sah sich verstohlen um. Als sie sicher war, dass niemand draußen auf dem Korridor stand, sagte Rita: »Ich kann dir nicht helfen, zu fliehen. Ich muss mein Baby schützen. Aber falls du aus dem Gebäude |351| rauskommst … also, du bist hier.« Sie faltete ein Blatt auseinander, das sie aus einem Straßenatlas herausgerissen hatte. In der Mitte hatte sie eine Stelle mit einem Kreuz markiert. »Ich kann’s dir nicht hierlassen. Du musst es dir so merken.« Als Lucy begann, sich die Einzelheiten der Karte einzuprägen, fügte Rita noch hinzu: »Ich wusste schon Bescheid, als ich dich bei
Oprah
gesehen hab. Ich hab gesagt, das ist kein Affe. Ich wusste, dass du bloß ein Mädchen bist. Du erinnerst mich an meine kleine Schwester.«
|352| 41
Harry begleitete Jenny und Amanda noch einmal zu Sy Joseph, der Klage einreichen sollte. Dann nahm Jenny Kontakt zu Senator Martin Cochrain auf, und er erklärte sich sofort bereit, sie trotz seines vollen Terminkalenders zu empfangen. In drei Tagen würden sie nach Washington fahren, Harry wollte mitkommen. Die Zeit bis dahin schien sich endlos hinzuziehen. Doch immerhin hatte Jenny jetzt das Gefühl, dass sie etwas tat,
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