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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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dem Aktenschrank hier. Keine Ahnung, wie es dorthin gekommen ist.«
    Amanda nahm es zur Hand und betrachtete den Deckel. »Das sollte Lucy bekommen. Es ist eins der letzten.«
    »Ja. Wenn wir es ihr nur geben könnten.«
    »Vielleicht sollten wir es Donna schicken. Zur sicheren Aufbewahrung.«
    »Sicherer als hier wäre es dort auf jeden Fall.«
    Dann standen Jenny und Amanda eine Weile lesend über das Notizbuch gebeugt da. Es war im Grunde ein Brief an Lucy, eine Art abschließende Bilanz.
    »Hast du die Nachrichten heute Morgen gesehen?«, fragte Jenny.
    »Nein, was ist denn passiert?«
    »Erinnerst du dich noch an Senator Rhodes, den Mann mit dem Werkzeugkasten bei der Anhörung? Sein Gesetz ist durch. Lucy ist jetzt offiziell kein Mensch mehr.«
    »Was? Lucy ist kein Mensch mehr? Was soll das heißen?«
    »Vermutlich, dass sie alles mit ihr machen dürfen, was sie auch mit Tieren machen.«
    Amanda schlug die Hand vor den Mund. Jenny legte die Arme um sie, und Amanda lehnte sich an sie.

|356| 42
    Als Lucy in den Käfig zurückgebracht wurde, war dort ein Feldbett aus Metall aufgestellt worden, das man mit den Gitterstäben verschweißt hatte. Ein durchdringender metallischer Geruch hing noch in der Luft. Die Matratze war ordentlich mit einem weißen Laken bezogen, und ein einzelnes Kissen und eine dünne Decke lagen obenauf. In einer anderen Ecke des Käfigs stand nun eine mobile Toilette und daneben auf dem Boden lag eine Rolle Toilettenpapier. Lucy setzte sich in ihrem blauen Patientenkittel auf den Rand des Bettes und schlang die Arme um sich.
    Sie hatte sich geschworen, keine Energie mehr darauf zu verschwenden, ihr Schicksal zu beklagen oder sich Ängsten hinzugeben. Ihre Angst war inzwischen in Wut umgeschlagen, in eine siedende, stets gegenwärtige Wut über das, was ihr angetan wurde. Sie verstand jetzt auch, was ihr von ihrem Vater angetan worden war. Er hatte recht gehabt, als er sagte: Nimm dich in Acht vor dem
Homo sapiens
. Er selbst hatte ja, wenn offenbar auch in bester Absicht, genau das getan, was die Menschen taten, vor denen er sie stets warnte: das Böse. Er hatte ihr Leben erschaffen. Sie selbst hätte sich diese Existenz nicht ausgesucht. Doch sie war auf der Welt, und jetzt schwor sie sich, nachzudenken und einen Fluchtplan zu schmieden. Sie war entschlossen, mit kühlem Vorsatz und wagemutig zu handeln, wenn es so weit war. Noch wusste sie nicht, wo das schwache Glied war in dieser Kette der Schlechtigkeit, aber sie würde es herausfinden.
    |357| Eisner kam um die Mittagszeit, wieder mit Mundschutz. »Wie geht es dir? Ich hoffe, das neue Bett ist bequem. Mit einer anderen Unterbringungsmöglichkeit für dich dauert es noch etwas.« Lucy sah ihn einfach nur an. »Möchtest du irgendetwas Besonderes zu essen haben? Soweit ich weiß, magst du Frühstücksflocken. Ich kann dir alles bringen lassen, was du möchtest.« Er hielt kurz inne, doch Lucy sagte nichts. »Ich lasse dir noch zwei Tage, an denen du dich ausruhen kannst, bevor wir mit den Standardtests beginnen. Dann machen wir erst einmal eine Penfield-Karte deines Gehirns. Weißt du, was eine Penfield-Karte ist?«
    Lucy hatte nicht die Absicht, irgendetwas zu sagen. Sie würde einfach auf eine Gelegenheit zum Handeln warten und sie ergreifen, wenn sie kam. Eisner betrachtete sie einen Augenblick lang.
    »Nun, du wirst schon munterer werden. Ich weiß, du bist noch müde. Erhol dich jetzt erst einmal. Ich muss nach Washington und kann dich in den nächsten ein, zwei Tagen nicht besuchen. Meine Krankenschwestern und Pfleger werden sich während meiner Abwesenheit um dich kümmern. Dieselben, die du schon kennst. Ich will Vertrauen aufbauen, du sollst nicht ständig mit neuen Leuten zu tun haben. Deshalb habe ich strikte Anweisung gegeben. Nur die, die du schon kennst, dürfen hier zu dir herein, bis ich zurückkomme. Und es wird auch ein anderer Veterinär auf Abruf bereitstehen für den Notfall. Aber das wird sicher nicht nötig sein.« Damit drehte er auf dem Absatz um und ging.
    In diesem Moment wurde Lucy zum ersten Mal klar, dass Eisner gar kein Humanmediziner war. Er war Tierarzt. Und es war klar, was darin unausgesprochen mitschwang: Humanmediziner behandelten Menschen, und sie war eben kein Mensch, sondern ein Tier.
    |358| Lucy saß da und beobachtete, wie das durch das Oberlicht hereinfallende Tageslicht über den Fußboden wanderte. Die Operationssaal-Ausstattung war entfernt worden, stattdessen standen jetzt andere Dinge da:

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