Lucy
einen kleinen Schnitt in die Hirnhaut, und dann können wir die Elektroden einsetzen. Kauter, bitte.« Das Instrument wurde ihm gereicht. Von der hellen Spitze des Kauters sprühten Funken, und Rauch stieg auf von dem Loch in ihrem Kopf. Das Blitzlicht flackerte, und die Trompeten setzten wieder ein. Bitte nicht, dachte Lucy. Keine Trompeten! Es fühlte sich an, als würden sie mit ihren schrillen Tönen in sie hineinschneiden.
Sie schloss die Augen, erschöpft und ungläubig. Habe ich wirklich einen so weiten Weg zurückgelegt, um das hier durchzumachen? Wie würde der Rest ihres Leben aussehen? Und Jenny und Amanda – würden sie je erfahren, was ihr zugestoßen war? Sie konnte das Rot ihres eigenen Blutes bei |343| geschlossenen Augenlidern sehen, als das Blitzlicht wieder aufflackerte und ein weiteres stampfendes Frachtzug-Allegro begann.
Sie bekam nicht mit, dass sie das Bewusstsein verlor, hatte aber das Gefühl, eine gewisse Zeitspanne verpasst zu haben. Jetzt wurde sie vom Operationstisch gehoben. Ganze Armeen von Geigen setzten ihr zu in einem letzten wilden Angriff. Man hüllte sie in ein Laken. Ein Dutzend Hände hoben sie auf eine Trage. Sie hörte Eisner sagen: »Intensivpflege. Ich will, dass die ganze Zeit jemand bei ihr ist. Und sie bleibt fixiert. Sie ist zu wertvoll, wir dürfen kein Risiko eingehen.« Sie öffnete die Augen und sah wie auf einem Gemälde Krankenschwestern in einem Kreis stehen, mit ihr selbst in der Mitte dieser Szene. Geigen rasten wie Insekten auf der Flucht aus ihrem in Flammen stehenden Nest. Dann sah sie Eisner, der sich mit einer Miene befriedigten Eifers über sie beugte. Er zog eine kleine Taschenlampe aus seiner Tasche und leuchtete ihr zuerst ins linke Auge, dann ins rechte, wobei er jeweils das Augenlid hochzog. »Hmm. Gut. Ausgezeichnet«, sagte er, schaltete die Taschenlampe aus, steckte sie wieder ein und spitzte nachdenklich den Mund. Lucy musterte Eisners Gesicht, in dem jetzt eine solche Selbstgewissheit, Emsigkeit und Begeisterung lag, dass sie zum ersten Mal erkannte, was sie bisher nur unterschwellig empfunden hatte, aber nicht benennen konnte. Jetzt wusste sie, was sie da sah. Es war das glatte, gleichgültige, ernste Antlitz des wahrhaft Bösen.
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»Die Geschichte der Lucy Lowe, auch bekannt als Dschungelmädchen, hat heute Nachmittag eine neue und bizarre Wendung genommen«, sagte der Reporter. »Ihre Adoptivmutter Dr. Jennifer Lowe hat sie bei der Polizei vermisst gemeldet.« Der Reporter stand auf dem Rasen vor dem Haus, so wie Jenny und er es besprochen hatten. Eine leichte Brise fuhr durch die Baumkronen, deren raschelndes Laub sich zu verfärben begann, denn der Herbst rückte unaufhaltsam heran.
»Dr. Lowe hat sich bereit erklärt, mit uns zu sprechen. Bleiben Sie also dran für ein Exklusivinterview, gleich nach diesen Spots.«
Während der Werbepause kam der Reporter ins Haus und setzte sich Jenny gegenüber. Als die Nachrichtensendung weiterging, erzählte sie ihm, dass Lucy sich auf den Weg gemacht habe, um eine Freundin zu besuchen, und seitdem verschwunden sei. Nach einer Überprüfung von Krankenhäusern und Leichenhallen habe Detective Nelson bei einem Abgleich mit anderen Polizeiwachen herausgefunden, dass sich in einem Ort namens Northbrook zwei Zeugen gemeldet hatten, sie hätten gesehen, wie ein Mädchen in rosa Jeans auf einem Gehweg offenbar zusammenbrach und dann von zwei Männern aufgelesen und in einem blauen Van weggeschafft wurde. Bei weiteren Nachforschungen der Polizei habe sich herausgestellt, dass in das Haus, vor dem sich das Ganze abgespielt hatte, während der Abwesenheit der Besitzer eingebrochen worden war. Aber es wurden nur Kleidungsstücke, |345| eine Sonnenbrille, ein iPod und Haartönung gestohlen. Das ohnmächtige Mädchen habe mehrfarbiges Haar gehabt.
»Und was hat das Ihrer Meinung nach alles zu bedeuten?«, fragte der Reporter.
»Ich glaube, dass dieses Mädchen Lucy war. Sie hat versucht, sich zu verkleiden, weil sie um ihre Sicherheit fürchtete. Und irgendwer hat sie gekidnappt. Derselbe blaue Van hat in der Nacht, als sie wegging, vor unserem Haus gestanden. Außerdem wurde bei uns eingebrochen, als wir weg waren, und die wissenschaftlichen Notizbücher von Lucys Vater wurden gestohlen. Ich kann nicht glauben, dass ein gewöhnlicher Dieb sich für so etwas interessieren würde. Ich glaube, dass irgendwer aus den Kreisen unserer Regierung es getan hat und dass die Lucy jetzt haben. Wir
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