Lucy
wollen wissen, wo sie ist, und wir wollen, dass sie unbeschadet nach Hause zurückkehrt.«
»Und wie sollte man Ihrer Meinung nach vorgehen?«
»Ich finde, dass der Kongress alle Regierungsbehörden anweisen sollte, offenzulegen, ob sie Lucy haben. Und ich finde, dass das FBI die verschiedenen radikalen Gruppen, von denen wir Drohbriefe, E-Mails und Anrufe bekommen, unter die Lupe nehmen sollte. Lucy ist ein sechzehn Jahre altes Mädchen mit einer sehr zarten Konstitution, und sie braucht ihre Mutter.«
»Und was, wenn Lucy einfach nur weggelaufen ist? So etwas kommt doch immer wieder vor.«
»Dann wüsste ich gern, wer die Notizbücher gestohlen hat und warum. Und ich wüsste gern, wer das Mädchen in der rosa Jeans ist.«
»Das war das Neueste in der Geschichte von Lucy Lowe. Michael Khoury, ABC News.«
Doch Jennys Vorgehen ging in gewisser Weise nach hinten los. Die Öffentlichkeit hatte kaum erfahren, dass Lucy vermisst |346| wurde, da begannen bereits die Sichtungen und Spekulationen. Experten wurden interviewt und mutmaßten, dass ein Geschöpf wie Lucy sich in den Wald zurückgezogen habe und nie wieder auftauchen werde. Andere glaubten, dass sie aufgrund ihrer empfindlichen Konstitution irgendwo zusammengebrochen sei und man sich auf die Suche nach ihrer Leiche machen solle. Eine Organisation, die bei der Suche nach vermissten Kindern half, veröffentlichte ein Foto von Lucy auf ihrer Webseite. Die von der Polizei eingerichtete Hotline erhielt mehrere Hundert Anrufe pro Tag. Lucy wurde überall gesehen: in Pendlerzügen, oben auf dem Sears Tower, unten am Lake Michigan, und sogar in einem der angesagten Nachtclubs Chicagos.
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Dann und wann schreckte Lucy in der Nacht von den seltsamen Geräuschen der Krankenhausmaschinen auf. Irgendwann träumte sie, dass sie wieder im Dschungel war, mit ihrem Vater, Leda, Toby, Viaje und der kleinen Faith. Sie waren glücklich und sammelten alle zusammen die Raupen auf, die von den hohen Ästen herabzufallen begonnen hatten.
Als es schließlich Morgen war und sie aufwachte, war sie völlig benommen von den Medikamenten, die man ihr gegeben hatte. Sie hatte entsetzliche Kopfschmerzen, die Brandenburgischen Konzerte brausten und lärmten immer noch in ihrem Gehirn. Ein ziehender Schmerz ging von der Stelle aus, wo man ihre Kopfhaut wieder zusammengenäht hatte. Ihr Kopf war fest bandagiert, und Bündel feiner Drähte hingen seitlich von ihr herab. Eine dünne Frau Mitte vierzig saß an ihrem Bett. Lucy versuchte sich aufzusetzen, aber sie war angegurtet.
»Kann ich bitte etwas Wasser haben?« Die Frau nahm einen Plastikbecher zur Hand, und Lucy trank. »Wo sind wir?«
»Du bist in einem Krankenhaus, Kind.«
»Nein, ich meine in welchem Bundesstaat sind wir? In welcher Stadt?«
»Tut mir leid, Kind. Ich bin Christin, du tust mir ehrlich leid. Aber ich glaube, wir dürfen uns nicht unterhalten.«
Lucy musste tagelang im Bett liegen bleiben, und eine wechselnde Schar von Krankenschwestern und Pflegern kam, um sie zu füttern und zu bewachen. Sie wechselten in vierstündigen |348| Schichten. Die meisten schauten fern, und die ewige Hysterie in den Sendungen machte es Lucy unmöglich, nachzudenken. Sie brauchte unbedingt einen Plan.
Eisner kam einmal am Tag, ging Lucys Diagramme durch und fragte sie, wie es ihr gehe. Am ersten Tag hatte Lucy den Fehler begangen, ihm zu sagen, dass sie Schmerzen hatte, und er hatte ihr wieder Medikamente verordnet. Seitdem erwähnte sie ihre Schmerzen nicht mehr.
Lucy versuchte sich mit allen, die sich um sie kümmerten, gut zu stellen. Vielleicht könnte sie bei irgendeinem von ihnen ja die Abwehr durchbrechen und eine Verbindung aufbauen.
»Haben Sie eine Lieblingsserie?«, fragte sie eine matronenhafte Frau.
»Oh, ja. Wir schauen zu Hause immer
All My Children
.« Lucy versuchte, sich mit ihr über die Soap zu unterhalten. Aber sie hatte sie nur ein- oder zweimal gesehen, kannte daher die Figuren nicht und konnte der Geschichte nicht folgen. Die Frau wurde bald einsilbig und schwieg schließlich ganz.
Einen muskulösen Pfleger fragte Lucy: »Bekommt man hier Kabelfernsehen rein?«
»Glaub schon. Ja.«
»Meinen Sie, es läuft irgendwo Sport? Mögen Sie Autorennen?«
»Ist ganz okay.«
»Was gefällt Ihnen denn?«
»Hey, weißt du, was mir gefällt? Wenn du die Klappe hältst.«
In der nächsten Schicht kümmerte sich eine schwangere Frau mit goldenen Ohrringen und schönem schwarzem Haar um sie. Sie war kaum älter
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