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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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aussah. Sie konnte sich nicht vorstellen, welches Tier auf diesem Breitengrad ein Nest von dieser Größe gebaut haben konnte.
    Sie versuchte gerade, sich ein vertrautes, aber noch verschwommenes Bild ins Gedächtnis zu rufen, als sie ein Wimmern hörte. »Lucy? Bist du dort oben?« Wieder hörte sie ein leises Weinen. »Was machst du da oben auf dem Baum?« Keine Antwort.
    Jenny lief in die Garage und holte eine Leiter, lehnte sie an den Baum und erreichte schnell die untersten Äste. Dann stieg sie vorsichtig weiter hinauf, bis zu dem Nest aus Zweigen, in dem sie Lucy zusammengekauert liegen sah. Jenny bemerkte, wie dick die zerbrochenen Zweige waren. Hatte das Mädchen das etwa gebaut, fragte sie sich. War sie so stark? Lucys Gesicht war gerötet, sie zitterte. Jenny legte ihr die Hand auf die Stirn.
    »Mein Gott, du glühst ja.«
    »Ich friere.«
    »Komm, du gehörst ins Bett.«
    »Ich bin doch im Bett.« Und einen Augenblick hielt Jenny inne, angerührt von einem Gefühl, das sie nicht recht einzuordnen wusste. Es war so seltsam, das Mädchen diese Worte |54| sagen zu hören. Aber warum? Doch sie hatte keine Zeit, um lange nachzudenken. Sie musste Lucy hier herunterholen.
    »Kannst du hinunterklettern? Wir müssen Fieber messen bei dir.« Lucy bewegte sich nicht. »Na komm, Schatz, klettere auf meinen Rücken. Ich bringe dich hinunter.«
    Es gelang Jenny, Lucy auf ihren Rücken zu hieven. »So ist’s gut. Schling einen Arm um meinen Hals.«
    Jenny spürte, wie wieder Leben in Lucys Arm kam und sie fester zupackte. Behutsam bahnte sich Jenny einen Weg von Ast zu Ast. Unten angekommen legte sie den Arm um Lucy, brachte sie ins Haus und steckte sie sofort ins Bett, ohne sie vorher auszuziehen.
    Als Jenny das Fieberthermometer endlich gefunden hatte, lag Lucys Temperatur schon bei 39,5   Grad und ihr klapperten die Zähne.
    »Muss ich jetzt sterben?«
    »Nein, nein, natürlich nicht. Du hast nur irgend so ein kleines Biest aufgeschnappt.«
    »Ein Biest?«
    »Ich meine, einen Erreger. Du musst einen Infekt haben oder so etwas. Du bist krank. Aber du wirst wieder gesund werden.«
    Lucys Haar war ganz feucht von Schweiß. Ihre grünen Augen glänzten, als sie sich ängstlich umsahen und schließlich an dem Baum draußen vor dem Fenster hängen blieben, wo Vögel zwitscherten.
    »Harry ist Arzt. Erinnerst du dich an Harry? Ich rufe ihn gleich an.«
    »Aber der Londoner Zoo!«
    Jenny nahm an, dass Lucy im Fieber fantasierte. »Ich bin gleich wieder da. Ich hole dir etwas Ibuprofen. Keine Angst. Versuch zu schlafen.«
    |55| Jenny lief den Flur hinunter in ihr Schlafzimmer und rief im Krankenhaus an. »Könnten Sie bitte Dr.   Prenderville auf seinem Pager anpiepsen?«, bat sie die Krankenschwester. Das liegt sicher an diesen langen Flügen, dachte Jenny, mit den vielen Leuten, die dieselbe Luft atmeten. Trotzdem fühlte sie sich persönlich verantwortlich. Dann hatte sie endlich Harry am Apparat, und Jenny erklärte ihm die Situation.
    »Mache mich gleich auf den Weg«, sagte er und legte auf.
    Jenny wartete eine Dreiviertelstunde, dass das Ibuprofen anschlug, doch als sie wieder Fieber maß, war es auf 39,9 gestiegen. Jenny zog das Mädchen so behutsam wie möglich aus. Lucys Körper sah fast noch wie der eines Jungen aus. Sie war fünfzehn Jahre alt und stand erst an der Schwelle zur Weiblichkeit. Ihre Brüste waren klein, ihr Bauch leicht konkav. Doch ihr noch spärliches Schamhaar war von einem so dunklen Braun, dass es fast schwarz wirkte. Ihre Gliedmaßen waren leicht behaart und sehr muskulös, was in starkem Kontrast zu ihrer in Kleidern so weich und feminin wirkenden Gestalt stand. Jenny holte einen feuchten Waschlappen und wischte ihren ganzen Körper ab. Lucy wimmerte, als sie das kalte Wasser auf der Haut spürte, und zitterte furchtbar. Doch eine halbe Stunde später war das Fieber auf 38,9 gesunken. Ihre Muskeln schienen sich hin und wieder zu verkrampfen, so als hätte sie Albträume. Zweimal schrie sie leise auf.
    Als es an der Tür klingelte, eilte Jenny die Treppe hinunter, um Harry hereinzulassen, der mit seinem roten Motorradhelm unter dem Arm einen Augenblick lang wie ein zur Rettung herbeigeeilter Ritter im Türrahmen stand. Jennys Haar war verwuschelt, ihr Gesicht erhitzt und besorgt. Sie trug ein T-Shirt mit der Aufschrift »Point-Bier: Zum Frühstück nicht, sonst immer« und dazu eine zerschlissene alte Jeans und schmutzige Joggingschuhe.
    |56| Harry grinste. »Aha, schlichtes Schwarz und dazu

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