Lucy
eine Perlenkette. Sehr elegant. Nur an die Schuhe würde ich noch mal einen Gedanken verschwenden.« Jenny schnitt ihm eine Grimasse und ging mit quietschenden Gummisohlen voraus in die Küche. Harry legte seinen Helm auf den Eichentisch im Flur und folgte ihr. Er war ein großer Mann Mitte fünfzig mit grau meliertem Haar und einem ironischen Lächeln. Er sah so aus, als hätte er in seinen Kleidern geschlafen. Aus seiner Jackentasche baumelte ein Stethoskop. Harry hatte vermutlich vergessen, dass es überhaupt dort steckte. Doch er war der beste Diagnostiker, den Jenny je kennengelernt hatte, und eine liebenswerte und mitfühlende Seele. Es war Harry gewesen, der es ihr überhaupt erst ermöglicht hatte, in den Kongo zu gehen.
Seit der Grundschule hatte Jenny Krankenschwester werden wollen. Harry war sie begegnet, als sie nach dem College ein Praktikum machte. Sie war zweiundzwanzig gewesen und Harry ein Arzt aus Berufung Mitte dreißig. Er hatte sie einfach umgehauen mit seinen intensiven haselnussbraunen Augen. Manchmal brauchte er sie bloß anzusehen, und schon bekam Jenny weiche Knie. Und für einen so zerzausten Intellektuellen gab er eine erstaunlich romantische Figur ab. Er besaß ein kleines Flugzeug, und wenn er den ganzen Tag operiert hatte, flog er an den Wochenenden im Herbst manchmal einfach nach New York und ging in die Oper. Einmal hatte er Jenny mitgenommen, und sie hatte sich gefühlt wie die Königin von Manhattan.
Dann entdeckte Jenny allerdings im Zoo von Milwaukee die Bonobos, und ihr Leben nahm eine andere Richtung. Zu jener Zeit ging Harry einmal im Jahr nach Zentralafrika, um für Ärzte ohne Grenzen Kinder zu operieren. Nicht selten war er achtzehn Stunden am Tag auf den Beinen. Für Jenny war |57| Harry ein echter Held, aber sie war froh, dass er sich selbst nicht allzu ernst nahm. Die zusammengewürfelte Truppe von Kollegen aus aller Welt nannte er zum Beispiel gern »Ärzte ohne Lizenzen«. Eines Sommers nahm er Jenny dann als Assistentin mit in den Sudan. Dort machte er sie mit David Meece bekannt. Und nachdem sie ihre Arbeit beendet hatten, reiste sie weiter in den Kongo, wo sie zum ersten Mal Bonobos in freier Wildbahn sah. Zu der Zeit waren Harry und Jenny bereits bloß noch gute Freunde gewesen. Sie hatten es eine Zeit lang als Liebespaar versucht, doch es hatte nie so recht geklappt, vor allem auch weil sie beide zu viel zu tun hatten. Aber Jenny konnte immer auf ihn zählen.
Manchmal überlegte Jenny, so wie jetzt, dass es vielleicht eine Dummheit gewesen war, ihn nicht zu heiraten. Sie hätte Kinder haben können. Aber das war lange her.
»Wir konnten uns gar nicht richtig unterhalten, als ich dich vom Flughafen nach Hause gefahren habe«, sagte Harry. »Ich meine, sie saß ja mit im Auto. Aber was um Himmels willen hast du dir dabei gedacht, sie hierher zu bringen? Hast du den Verstand verloren?«
»Ich konnte sie doch nicht ins Waisenhaus stecken, Harry. Ich habe sie gerettet und aus dem Dschungel mitgenommen. Und dann war es wie bei diesen Mädchen im Heim. Ich musste einfach helfen.«
Harry seufzte. »Du hast ja recht. Du hast ein gutes Herz, Jenny. Vielleicht ein zu gutes, du denkst nicht genug an dich.« Er nahm sie in die Arme und streichelte ihr über die Schultern. Sie fühlte sich wie ein kleines Kind in seinen Armen. »Ich bin nur froh, dass du in Sicherheit bist, und hoffe, du bleibst jetzt erst mal eine Weile hier.«
»Sieh sie dir mal an, ja? Na los, sei ein guter Arzt und mach dich nützlich.«
|58| »Ja, natürlich. Ich werde ein paar Tests machen lassen. Um sicherzugehen, dass sie nicht Ebola oder etwas ähnlich Nettes mitgebracht hat.«
»Hey. Du bist derjenige, der mich nach Afrika mitgenommen hat.«
»Nicht in den Kongo. Der Kongo ist anders. Das finsterste aller Herzen.« Und mit diesen Worten lief Harry die Treppe hinauf, indem er zwei Stufen auf einmal nahm.
Lucy schien wieder ruhiger zu schlafen. Harry wühlte in seinen Taschen nach einem Lämpchen, hob ihre Augenlider an und leuchtete ihr in die Pupillen. Er sah ihr in den Mund und in die Ohren und hörte schließlich mit dem Stethoskop noch ihre Lungen und das Herz ab. »Saubere Lungen«, sagte er. »Ein starkes Herz.« Dann nahm er ihr zwei Ampullen Blut ab. Lucy zuckte nicht einmal.
Als sie wieder in der Küche waren, sagte Harry: »Dieses Mädchen hat irgendetwas Eigenartiges an sich.«
»Was meinst du damit?«
»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Es ist nur so ein Gefühl. Ihre
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