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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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mit einer Banane in der Hand zurück, setzte sich und biss hinein, ohne sie vorher zu schälen.
    »Lucy, was machst du denn da?«
    Verwirrt und mit vollem Mund sah Lucy auf.
    »Schälst du sie nicht?«
    Lucy kaute weiter, verlegen jetzt, und schüttelte verunsichert den Kopf. Dann schluckte sie hinunter. »Tut mir leid. Aber so haben wir es zu Hause alle gemacht.«
    |62| »Nein, nein, schon gut. Ich dachte bloß   … Vielleicht wäschst du sie lieber erst ab   … Ach, ist ja auch egal.«
    Aber Lucy hatte ihre Aufmerksamkeit etwas anderem zugewandt. Sie starrte unverwandt ein Eichhörnchen an, das kreischend auf einem Ast hockte. »Irgendwo da oben ist ein großer Habicht.«
    »Wirklich?«
    »Ich kann ihn noch nicht sehen. Aber hör doch.«
    Jenny tat es achselzuckend ab. Lucy hatte im Dschungel eben besondere Wachsamkeit gelernt, dachte sie und betrachtete Lucy, die mit größter Intensität und Konzentration aß und lauschte. Eine solch dringliche Entschlossenheit war Jenny auch schon bei ein paar der Teenager im Mädchenheim aufgefallen. Doch Lucy wirkte so sanft und liebenswürdig und unschuldig, ganz anders als einige der Mädchen in dem Heim, die von einem Moment auf den anderen gewalttätig werden konnten. Jenny hörte das Eichhörnchen »Tschuk! Tschuk! Tschuk!« rufen. Und während sie Lucy noch ansah, wandte die ihren Blick Jenny zu. Diese Augen. Es war nicht genau dasselbe Gefühl, das sie empfand, wenn Harry sie ansah, ja, in sie hineinsah, doch es war ebenso intensiv.
    »Was ist denn?«
    »Hoffentlich müssen wir heute nicht wieder in irgendwelche Läden gehen.«
    Lucy hatte das mit einem solchen Ernst gesagt, dass Jenny sich abwenden musste, um ihr Lächeln zu verbergen. »Nein. Nein, keine Sorge. Heute lassen wir es gemütlich angehen. Aber ich habe einiges an Arbeit zu erledigen, so dass du dich selbst beschäftigen musst.«
    »Ich habe im Bücherregal in deinem Wohnzimmer die Bücher von Stephenie Meyer gesehen. Darf ich die bitte lesen? Papa sagte, das wäre Schund. Er wollte immer, dass |63| ich sinnvolle Sachen lese. Aber ich will auch mal Schund lesen.«
    »Natürlich. Sieh das hier ganz als dein Zuhause an, bis wir deine Familie gefunden haben«, erwiderte Jenny, worauf Lucy ihr einen schmerzerfüllten Blick zuwarf. Sie versuchte noch, sich einen Reim darauf zu machen, als das Telefon klingelte.
    »Meine Liebe«, begann Harry, »ich kann dir sagen, dass das Mädchen an keiner Infektionskrankheit leidet, die wir mit unseren Labortests nachweisen könnten.«
    »Ja, sie wirkt heute Morgen schon wieder ganz gesund. Danke, dass du das so schnell gemacht hast. Dafür hast du was gut bei mir.«
    »Na, dann werde ich mal gründlich nachdenken, wie ich mir das entlohnen lasse!«
    »Tu das.«
    »Also, ich muss hier weitermachen. Krankheit wartet nicht.«
    »Tschüss, Harry.« Jenny drehte sich zu Lucy um. »Harry sagt, es ist alles okay.«
    »Ich fühle mich auch schon viel besser. Nur ein bisschen müde.«
    »Na also. Ich werde jetzt mal die Teller abräumen und dann einigen Papierkram erledigen.«
    »Lass mich aufräumen. Du kannst gleich arbeiten gehen.«
    »Fein. Frag einfach, wenn du irgendetwas brauchst. Ich bin in meinem Arbeitszimmer.«
     
    Jenny hatte den alten Wintergarten in ein Büro umgewandelt. Sie liebte den hellen lichtdurchfluteten Raum mit dem Blick auf das üppige Grün des Gartens, in dem jetzt die roten und gelben Stockrosen blühten. Sie hatte Gewächse der Region angepflanzt und ließ der Natur einfach ihren Lauf, seit ihre |64| Mutter in ein Apartment umgezogen war. Baumäste hingen bis auf den Erdboden hinab und eine blühende Hecke war drei Meter hoch gewachsen. Ein hoher Zaun aus Zedernholz am östlichen Grundstücksrand sorgte zusätzlich für Privatsphäre.
    »Du hast meinen hübschen Garten hinterm Haus in deinen eigenen Privatdschungel verwandelt«, hatte ihre Mutter schon mehr als einmal gesagt. »Hast du nicht genug davon in Afrika? Nun, es ist ja jetzt dein Haus.«
    Jenny lächelte bei dem Gedanken an ihre Mutter und drehte sich zum Schreibtisch um. Ihr Rucksack stand noch am Fenster, wo sie ihn am Tag ihrer Ankunft hatte fallen lassen. Auch nachdem sie sicher zu Hause angekommen waren, hatte Jenny der Schreck noch in allen Gliedern gesteckt. Sie hatte schon zwei Kriege im Kongo erlebt, den ersten 1996, und dann wieder 1998.   Mehrere Jahre lang hatte sie damals mit ihrer Forschungsarbeit aussetzen müssen, weil es zwischen den Hutus und Tutsis zu Gemetzeln gekommen

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