Lucy
sich eine ganze Traube und biss hinein. Saft lief ihr übers Kinn. »Mmm. Die schmecken gut.« Sie nahm noch einen Bissen.
»Die sollten wir besser erst abwiegen.« Doch Lucy schien gar nicht aufhören zu können und aß immer weiter. »Ach, was soll’s. Ein bisschen Mundraub muss schon mal drin sein.« |51| Jenny schob den Einkaufswagen einen Gang hinunter und Lucy folgte ihr, eine Saftspur hinter sich herziehend.
Während sie an den Regalen entlanggingen, fragte Lucy ständig: »Was ist das? Oh, und wie nennt man dies? Was ist in der Schachtel drin?« Eine Frage folgte der nächsten. Und nach einer ganzen Weile schien Lucy dann ein wenig durchzudrehen. Sie rannte die Gänge auf und ab, griff völlig willkürlich Dosen, Gläser und Packungen aus den Regalen, warf sie in den Einkaufswagen und rief dabei immer: »Oh, lass uns dies mitnehmen. Und dies. Kann ich auch davon was haben? Oh, sieh nur!« Die Leute drehten sich nach ihnen um und starrten sie an.
»Lucy, Lucy, Lucy.« Jenny nahm das Mädchen in die Arme und drückte sie an sich. »Lucy, hör auf. Hör auf!«
In Jennys Armen entspannte Lucy sich. Peinlich berührt wandten die Umstehenden sich ab. Sie halten Lucy sicher für irgendwie geistig behindert, dachte Jenny. Und dann kam ihr selbst der Gedanke: Vielleicht litt das Mädchen ja am Tourette-Syndrom. Als Jenny sie so hielt und ihren Geruch einsog, spürte sie, wie fest und kraftvoll Lucys Körper sich an sie drückte, wie stark sie war trotz ihrer zierlichen Erscheinung.
Verloren sah Lucy zu ihr hinauf. »Jenny. Was sind Choco Krispies? Essen die Menschen so was wirklich?«
Jenny konnte nicht anders, sie musste lachen. Und während sie Lucy noch festhielt, dachte sie, was für ein schönes Kind sie doch war. Vielleicht würde sich Lucy noch als ein Segen erweisen. Jenny hatte immer Kinder gewollt. Zumindest zeitweilige. Das war einer der Gründe, warum sie ehrenamtlich im Mädchenheim mithalf. Warum sollte sie ihre mütterlichen Instinkte nicht mal ein paar Wochen lang an Lucy ausleben.
»Lucy, Schatz«, sagte Jenny später auf dem Weg nach Hause |52| im Auto, »weißt du, hier ist es nicht wie im Urwald, wo du jederzeit deinen Gefühlen freien Lauf lassen kannst.«
»Tut mir leid. Ich mache das nicht absichtlich. Es passiert einfach so.«
»Ich weiß. Versuch einfach nur, dich etwas mehr zu … kontrollieren.«
»Ich werd’s versuchen. Tut mir leid.«
»Du tust es ja nicht für mich, Schatz. Mir ist egal, was die Leute denken. Aber so wirst du dich viel leichter tun, wenn du zu deiner Familie kommst. Und auch später in der Schule wirst du besser zurechtkommen, wenn du dich anpassen kannst.«
Lucy warf Jenny einen schmerzerfüllten Blick zu. Jenny fragte sich, ob ihr seltsames Verhalten vielleicht von einer posttraumatischen Belastungsstörung herrührte, und nahm sich vor, Lucy einem Therapeuten vorzustellen, sobald sie hier richtig angekommen waren.
Als sie zu Hause waren, half Lucy ihr, die Einkäufe hineinzutragen. Jenny fiel auf, dass sie etwas erhitzt zu sein schien. Während Jenny die Lebensmittel einräumte, ging Lucy in den Garten hinaus. Es war ein warmer, sonniger Tag, und Jenny dachte sich nichts dabei. Sie brachte die folgende Stunde damit zu, eine Lasagne mit roten Paprika zuzubereiten. Erst als sie das Gericht zum Garen in den Ofen geschoben hatte, ging sie hinaus, um nach Lucy zu sehen.
Schrägstehende Sonnenstrahlen tauchten die Steinterrasse, von der aus man den von Präriepflanzen überwucherten Garten überblicken konnte, in tiefgelbes Licht. Jenny dachte, Lucy würde jeden Augenblick aus dem hohen Gras, das die Steinwege umstand, auftauchen. Doch es war nichts von ihr zu sehen. Was, wenn das Mädchen weggelaufen war und sich verirrt hatte? »Lucy«, rief sie. Dann lauter: »Lucy!« Sie spürte, wie ihre Schläfen zu pochen begannen. Gütiger Gott, dachte |53| sie, ich habe sie doch nicht aus dem Dschungel geholt, um sie in einem Vorort zu verlieren.
Jenny ging um den Grill herum und lief ein Stück einen der Wege entlang. Sie rief noch einmal. Nichts. Sie drehte sich wieder um und lief in die andere Richtung. Doch Lucy war nirgends zu sehen. Als Jenny auf die Terrasse zurückkehrte, spürte sie langsam Panik in sich aufsteigen. Dann hörte sie ein Rascheln und sah in den Ahornbaum hinauf, dessen Krone über die Terrasse ragte. Und dort, weit oben in den Ästen, sah sie etwas, das wie ein großes grünes Nest aus abgebrochenen und miteinander verflochtenen Zweigen
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