Lucy
Haut ist anders. Ihr Haar. Und sie riecht auch eigenartig. Hat sie gebadet?«
»Ja, natürlich.« Jenny war all das auch schon aufgefallen.
»So, ich bringe die hier schnell ins Labor«, sagte er und steckte die beiden Ampullen ein.
»Du bist ein Heiliger.«
»Nein, ich bin Arzt. Und mach dir keine Sorgen. Ihre Vitalfunktionen sind gut. Es ist vermutlich nur ein Infekt.«
Ja, dachte Jenny, als sie Harry auf seinem Motorrad hinterhersah: Es ist vermutlich nur ein Infekt.
|59| 5
Jenny verbrachte die Nacht auf einer Matratze vor Lucys Bett. Zweimal maß sie Fieber, und beim zweiten Mal war Lucys Temperatur normal. Erst dann schlief sie erleichtert fest ein. Und jetzt meinte sie, immer noch zu träumen. Sie hörte eine wunderbare Stimme auf Italienisch singen, genoss den Wohlklang, den Schlaf, doch dann war sie plötzlich mit einem Ruck wach. Die Lilien standen in voller Blüte, und ihr Duft wurde von einem leichten Wind herangeweht. Jenny setzte sich auf und sah, dass Lucys Bett leer war.
Quando me’n vò soletta per la via,
La gente sosta e mira
E la bellezza mia tutta ricerca …
Ricerca in me
Da capo a piè …
Jenny stand auf und folgte dem Gesang den Flur hinunter in ihr eigenes Schlafzimmer, wo sie ans offene Fenster trat und in den Garten hinaussah. Es war Lucy, die diese traurige Arie sang, während sie von den am Zaun wachsenden Stauden Erdbeeren pflückte. Und sie trug nicht einen Faden am Leib. Einen Moment lang stockte Jenny der Atem. Dann griff sie nach ihrem Morgenrock, lief die Treppe hinunter und über die Terrasse in den Garten und rief fröhlich: »Guten Morgen, Lucy!«
»Guten Morgen.« Lucy sträubte sich nicht, als Jenny ihr |60| den Morgenrock um die Schultern legte. »Muss ich sogar im Garten Kleider tragen?«
»Ja, Lucy, leider. Es ist albern, ich weiß. Und ich wünschte, es wäre nicht so. Aber wir sind nicht mehr im Regenwald. Die Nachbarn hier würden es nicht verstehen.«
»Warum wohnen die Leute nur so dicht beieinander?«
»Tja, aus reiner Habgier, fürchte ich. Das Land wurde von Leuten gekauft, dann aufgeteilt und immer weiterverkauft.«
»Würdest du nicht lieber im Urwald leben?«
»Ja, schon. Aber ich unterrichte an der Universität, und es würde viel zu lange dauern, dort hinzukommen. Und dann hat mir meine Mutter auch dieses Haus überlassen. Sie wurde alt und kam allein nicht mehr zurecht damit. Und so lebe ich eben hier.«
Lucy sah in den Himmel hinauf. »Sind das Flugzeuge? So wie die, in denen wir saßen?«
Jenny folgte ihrem Blick und sah die Kondensstreifen einiger über sie hinwegziehender Passagierflugzeuge. »Ja. Genau.«
»Sie haben den Himmel in einen Käfig gesteckt.«
»Du hast recht. Sie haben den Himmel in einen Käfig gesteckt.« Jenny band Lucy den Gürtel des orangefarbenen Morgenrocks zu. »Ich bin so froh, dich wieder gesund und munter zu sehen. Komm, Lucy. Lass uns reingehen und etwas essen.«
Lucy seufzte. »Oh, ja, na gut.« Ganz wie ein normaler Teenager: genervt.
Sie gingen gemeinsam auf einem der Steinwege zwischen den Präriegräsern hindurch in die Küche.
Jenny holte die Haferflocken aus dem Schrank. »Lucy, was hast du gestern eigentlich da oben auf dem Baum gemacht? Hast du dieses Nest gebaut?«
»Ja, habe ich.«
»Aber warum? Und wie?« Jenny erinnerte sich noch an |61| den Augenblick, als sie es entdeckte. Sie hatte sich ein Bild vor Augen zu rufen versucht, aber die Eile der Situation hatte verhindert, dass sie es vollständig zusammensetzte. Was war es gewesen?
»So habe ich manchmal geschlafen. Im Urwald. Wenn ich vor den Großkatzen Angst hatte. Dort oben war es sicherer. Ich habe eine Menge solcher Sachen von den Bonobos gelernt.«
Die Bonobos, dachte Jenny. Natürlich. Sie bauten jede Nacht solche Nester und schliefen in den Bäumen. Es war einleuchtend, dass Lucy, die im Dschungel aufgewachsen war, so etwas auch gelernt hatte. Dr. Stone hatte eine Fütterungsstation betrieben, dort waren immer Bonobos in der Nähe gewesen.
»Möchtest du draußen essen?«, fragte Jenny.
»Oh ja! Ich trage die Sachen raus.«
Sie setzten sich an einen schmiedeeisernen Tisch unter dem Ahornbaum. Lucy tränkte ihren Haferbrei mit Honig aus einem Töpfchen, das Jenny von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte. Es war ein Bild von Winnie Pu darauf.
»Darf ich mir eine Banane nehmen?«
»Aber sicher, Lucy. Du kannst dich ganz wie zu Hause fühlen. Nimm dir, was immer du möchtest.«
Lucy ging in die Küche und kam
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