Lucy
war, die schließlich fünf Millionen Menschenleben kosteten. Die meisten der Kämpfe hatten jedoch weit im Norden und Westen von Jennys Arbeitsort stattgefunden, so dass sie erst bei diesem letzten Ausbruch selbst unter Beschuss geraten war.
Sie nahm den Rucksack und setzte sich an den großen antiken Shelbyville-Schreibtisch ihres Vaters. Dieser Schreibtisch war für sie für immer mit ihrem Vater verbunden. Er war gestorben, als sie zehn Jahre alt gewesen war, und nach seinem Tod hatte sie sich oft auf seinen Stuhl gesetzt, den Kopf auf die Tischplatte gelegt und den Geruch des geölten Holzes eingesogen. Sie benutzte das Öl heute noch.
Schweren Herzens öffnete sie den Rucksack. Sie wusste, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht so schnell wieder in den Kongo reisen würde, und schon jetzt vermisste sie die sanft geschwungenen Hügel, die von einem so satten Grün |65| waren, dass die Farbe fast unwirklich erschien unter dem kobaltblauen Himmel, an dem die Wolken wie große weiße Schoner dahinsegelten.
Das Erste, was sie sah, als sie den Rucksack öffnete, war das Foto, das sie aus Donald Stones Hütte gerettet hatte. Sogar in ihrer Panik hatte sie gedacht, dass das Mädchen das Foto sicher gern haben würde. Es zeigte Stone, auf ein Knie gehockt und einen Arm um Lucy gelegt, die etwa zehn Jahre alt war. Beide lächelten. Sein Gesicht war zerfurcht und kantig, aber freundlich. Er hatte strahlende Augen, ein sympathisches Lächeln und einen verschmitzten Ausdruck. Lucys kleines Gesicht verschwand fast unter ihrer dichten Lockenmähne. Aber sie zeigte dasselbe ernsthafte Lächeln, das Jenny schon an ihr gesehen hatte. Sie stellte das gerahmte Foto auf den Schreibtisch.
Als sie ihren Stuhl näher an den Schreibtisch heranrücken wollte, stieß sie mit dem Fuß gegen etwas. Donald Stones Rucksack. Da kam ihr plötzlich ein Gedanke. Sie bückte sich und schnürte ihn auf. Er enthielt die Notizbücher, die sie in Stones Hütte eingesammelt hatte. Jenny hatte keine Ahnung, womit sich Donald Stone in all den Jahren, in denen er die Bonobos beobachtete, beschäftigt hatte. Stone hatte seit fünfundzwanzig Jahren nichts mehr veröffentlicht und war auch an keiner Universität mehr angestellt gewesen. Er hatte als verschroben und scheu gegolten, zwar überaus höflich, aber dennoch schwer zugänglich. Er hatte einiges Geld geerbt, daher hatte er auch keine Anträge auf Forschungsgelder mehr gestellt. Vielleicht enthielten ja seine Notizen ein paar Hinweise, die sie zu den Verwandten von Lucys Mutter führen könnten.
Es waren kleine orangefarbene Hefte, ungefähr zehn mal fünfzehn Zentimeter groß, durchnummeriert und datiert. |66| Jenny holte einige aus dem Rucksack heraus. Sie rochen nach Naphthalin, damit hatte Stone wohl verhindern wollen, dass sie im Dschungel verrotteten. Die Seiten waren eng mit Bleistift beschrieben, in einer kleinen, sauberen Handschrift. Jenny legte sie alle auf dem großen Schreibtisch aus und sortierte sie chronologisch. Dann ging sie ihren Kaffeebecher auffüllen.
Sie schlich auf Zehenspitzen in die Küche und sah, dass Lucy alles ordentlich aufgeräumt hatte. Leise lief sie den Flur entlang und spähte ins Wohnzimmer. Lucy lag in einen Sonnenstrahl getaucht bäuchlings auf dem Boden und trug noch immer den orangefarbenen Morgenrock. Sie hatte die nackten Beine angewinkelt und wackelte mit den Zehen, während sie in einem der beliebten Vampirbücher las. Lucy sah auf und lächelte Jenny kurz zu, dann las sie weiter. Sie ist wunderbar, in jeder Hinsicht, dachte Jenny. Es ist überhaupt nichts Eigenartiges an ihr. Und sie hilft sogar bei der Hausarbeit. Jenny wusste jetzt schon, dass sie Lucy vermissen würde, wenn diese nach England zurückkehrte.
Jenny ging zurück in ihr Arbeitszimmer und setzte sich in einer sonnigen Ecke in ihren Lieblingssessel. Dann schlug sie das erste Notizbuch auf, das Stone vor mehr als einem Vierteljahrhundert geschrieben hatte, und las. »Ich will gar nicht versuchen, dieses Projekt zu rechtfertigen. Das ist eine eher philosophische Aufgabe, die eines anderen Orts und einer anderen Zeit, wenn nicht gar eines anderen Autors bedürfte. Vorerst will ich nur schildern, was ich tue und wie gut oder schlecht es gelingt. Und wenn alles gut gelingen sollte, werden ohnehin meine Kinder für mich sprechen, denn ich werde sie darin unterweisen, wer sie sind und warum sie hier sind.«
Jenny hielt kurz inne, erstaunt über den Ton und die Unbestimmtheit von
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