Lucy
irgendwo.
»Es soll so wunderschön sein.«
»Oh, cool«, sagte Lucy und versuchte Amandas Redeweise nachzuahmen. »Cool«, wiederholte sie, weil sie den tieferen Sinn dieses Wortes erfassen wollte. Es war doch ziemlich komisch, so etwas zu sagen.
»Man hört deinen britischen Akzent fast gar nicht. Nur ein bisschen.«
»Mein Vater hat als Kind schlimm gelispelt, und sein Sprachtherapeut hatte keinen Akzent. Deshalb … spreche ich so wie er.«
»Und was machst du hier in den Staaten?«
»Na ja, meine Eltern sind tot.« Da, es war heraus.
»Oh Gott, das tut mir leid.« Amanda schien ehrlich betroffen.
Lucy holte erst einmal tief Luft, ehe sie weitersprach. Sie bemerkte plötzlich, wie selten sie in ihrem Leben bisher hatte lügen müssen und wie schwierig es war. Sie suchte nach etwas, das simpel war und doch der Wahrheit entsprach. »Mein Vater war Wissenschaftler, und eine seiner Kolleginnen ist gerade dabei, mich zu adoptieren. Sie ist von hier, und deshalb … bin ich jetzt auch hier.«
»Das ist ja echt schrecklich. Wie ist es denn passiert?«
»Im Bürgerkrieg. Sie wurden von kongolesischen Milizen umgebracht.«
»Oh Gott, wie entsetzlich. Das tut mir alles echt furchtbar leid für dich.«
»Danke.« Lucy wusste nicht, was sie sonst sagen sollte.
|103| »Willst du dich beim Mittagessen nicht zu mir setzen? Ich kann dich mit ein paar Leuten bekannt machen.«
»Das wäre ganz famos«, erwiderte Lucy und merkte gleich, dass sie wohl etwas Falsches gesagt hatte, denn Amanda warf ihr einen ziemlich merkwürdigen Blick zu. Sie wusste eben immer noch viel zu wenig, dachte sie. Wie sollte sie das alles bloß lernen?
Als der Lehrer schließlich mit dem Unterricht begann, nahm Lucy eine Veränderung im Großen Strom wahr. Die anderen Schüler hatten registriert, dass Lucy und Amanda sich unterhielten, und auch deren Mienenspiel gedeutet. Stumme Botschaften flogen hin und her durch den Raum, und Lucy konnte geradezu spüren, was geschehen war: Da Amanda sich mit aufrichtigen Gefühlen mit ihr unterhalten hatte, war etwas von ihrem Status und Ansehen nun auf Lucy übergegangen.
Später saßen sie wie geplant gemeinsam in der Cafeteria. Doch Amanda hatte Lucy ihren Freunden, drei Mädchen und einem Jungen, kaum vorgestellt, da stockte das Gespräch auch schon wieder, und alle holten ihre flachen bunten Handys heraus. Sie telefonierten nicht, sondern starrten nur darauf und tippten mit den Fingern auf den Tasten herum. Fasziniert sah Lucy eine Zeit lang zu. Dann beugte sie sich zu Amanda hinüber und fragte flüsternd: »Was machst du da eigentlich?«
»Bist du etwa nie aus dem Urwald rausgekommen?«
»Nein. Ich wurde dort geboren und bin dort aufgewachsen. Tut mir leid.«
»Nein, mir tut’s leid. Das war nicht besonders nett. Ich schreibe SMS. Hol mal dein Handy raus, dann zeig ich dir, wie’s geht.«
Lucy erstarrte. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Amanda warf ihr einen langen argwöhnischen Blick zu. »Hast du kein Handy?«
|104| Beschämt ließ Lucy den Kopf hängen.
»Hey, Leute«, rief Amanda in die Runde. »Lucy hat kein Handy. Ist das cool, oder was?«
»Supercool«, sagte Matt, so hieß der Junge.
»Wahnsinn«, sagte eins der Mädchen, das blond war und Melissa hieß. »Ich würde meins auch am liebsten loswerden. Aber wie kannst du denn, äh …
existieren
ohne?«
Lucy spürte, wie ihr Gesicht rot anlief.
»Ich kann mich nicht mal mehr an die Zeit
erinnern
, wo ich keins hatte«, fügte Melissa hinzu.
»Das liegt bloß daran, dass dein Hirn von den vielen Joints total vernebelt ist«, erwiderte Matt. Alle kicherten.
Wieder beugte sich Lucy zu Amanda hinüber. »Was sind denn Joints?« Alle lachten, und Lucy fühlte sich so verlassen, als wäre sie vollkommen allein im weiten Universum.
»Oh, Mann. Dir müssen wir ja noch so einiges beibringen.«
Der Schultag ging langsam seinem Ende zu, und Lucy trabte inmitten einer Traube von Schülern dem Ausgang entgegen. Da drang auf einmal durch eine große Doppeltür ein vertrautes Geräusch an ihr Ohr, das sie innehalten ließ. Lucy neigte den Kopf und lauschte aufmerksam, wie in Alarmbereitschaft. Sie hatte das Geräusch sofort erkannt, doch es erschien ihr vollkommen abwegig: Sie hörte das aufbrandende Gekreisch freudig erregter Bonobos, die bei einem plötzlich hitziger werdenden Zweikampf die Gegner anfeuerten. Es erinnerte Lucy an das so aufregende wie entsetzliche Geräusch, das alle Bonobos an jenem Tag
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