Lucy
nachlässig von uns, wenn wir es nicht überprüften. Das ist auch eine Frage der möglichen Haftung, meinen Sie nicht auch?«
Dem konnte Jenny kaum widersprechen. Auch Harry ließ die Blutwerte von Patienten regelmäßig untersuchen, um sich gegen mögliche Schadensersatzklagen zu schützen. Und die Schule wollte natürlich genauso wenig verklagt werden.
Als sie nach Hause fuhren, fragte Lucy: »Werden sie es jetzt herausfinden? Durch ihre Ärzte?«
»Das glaube ich nicht. Sie haben keinen Anlass, eine Genanalyse zu machen, und nur dann würde es herauskommen. Versuch in der Zwischenzeit erst mal, niemanden mehr durch eine Turnhalle zu werfen.«
Lucy lachte, und Jenny hatte den Eindruck, dass darin auch ein bisschen Stolz auf ihre Tat mitschwang.
»Wolltest du mich eigentlich ›Mutter‹ nennen? Oder hast du das nur wegen der Schulpsychologin gesagt?«
»Oh, darf ich? Darf ich Mutter zu dir sagen? Nein, lieber Mom. Das ist amerikanischer, nicht? Bitte, darf ich Mom zu dir sagen?«
Jenny spürte, dass ihr die Tränen kamen. »Ja, natürlich. Ich würde mich sehr, sehr freuen, wenn du es tust.«
Als Lucy am nächsten Tag in die Schule kam, wusste sie sofort, dass zwei Informationen sich wie ein Lauffeuer verbreitet |111| hatten: dass ihre Eltern ermordet worden waren und dass sie den Jungen durch die Turnhalle geworfen hatte. Jetzt war auch sie im Großen Strom, zusammen mit all den anderen Schülern. Als sie den Flur entlangging, teilte sich die Menge vor ihr, und eine Welle geheimer Botschaften begann hin und her zu schwappen. Sie spürte Panik in sich aufsteigen und versuchte sich zusammenzureißen, obwohl ihr das Herz in der Brust hämmerte. Tief durchatmen, sagte sie sich. Tief durchatmen. Mach bloß keine Szene.
In der dritten Pause, vor dem Englischunterricht, hatte Lucy sich kaum noch im Griff. Steif vor Anspannung ging sie den Flur entlang und spürte, wie sie aus allen Richtungen angestarrt wurde. In einer Bonobofamilie wurden nur die Anführer so oft angesehen wie Lucy jetzt von den Schülern. Wenn ein anderer Bonobo unerträglich viele Blicke auf sich zog, begann er zu kreischen und demonstrativ etwas zu tun, etwa Äste abzubrechen und sie herumzuschleifen. Lucy spürte genau diesen Drang in sich aufsteigen, aus einem machtvollen Quell innerer Energie, die sie nicht zu bändigen vermochte. Ohne richtig zu merken, was sie tat, sprang sie auf einmal in die Höhe und landete in kauernder Haltung auf den Spinden, die sich zu beiden Seiten an den Flurwänden entlangzogen. Sie warf die Arme in die Luft, trommelte mit beiden Fäusten an die Decke und stieß einen durchdringenden Schrei des Triumphes aus, der in allen Gängen widerhallte. Die Schüler, die stehen geblieben waren, brachen in Jubel aus, und einer begann zu skandieren: »Luu-ciie! Luu-ciie! Luu-ciie!«
Mehr und mehr Schüler stimmten in den Gesang ein, und schließlich sprang Lucy wieder auf den Boden hinunter und setzte ihren Weg fort, mit stolzem Schritt und wiegenden Hüften jetzt. Ein vielstimmiger Chor folgte ihr bis ins Klassenzimmer, wo die Schüler ebenfalls sangen.
|112| »Luu-ciie! Luu-ciie! Luu-ciie!«
Grinsend und mit rotem Gesicht ging sie zu ihrem Platz. Amanda fing Lucys Blick auf, lächelte und hob den Daumen. Lucy wusste nicht genau, was diese Geste bedeutete, aber es tat gut, Amanda lächeln zu sehen. Als Lucy sich auf den Stuhl neben ihr fallen ließ, sagte Amanda: »Genau, scheiß auf sie, wenn sie keinen Spaß verstehen, sag ich immer.«
»Ja. Scheiß auf sie.« Diesen Ausdruck hatte Lucy noch nie zuvor benutzt. Es fühlte sich irgendwie gefährlich an und kraftvoll.
»Wie bist du so stark geworden?«
»Na ja, ich bin eben im Dschungel aufgewachsen. Wir haben nichts anderes gemacht als auf Bäume zu klettern.«
»Krass.« Amanda wühlte in ihrem Rucksack. Schließlich holte sie einen Plastikbeutel hervor. »Hier, ich hab dir ein paar Weintrauben mitgebracht.«
»Danke. Woher weißt du, dass ich Weintrauben mag?«
»Jeder mag Weintrauben.«
»Also, meine Herrschaften«, begann Mr. Marx mit monotoner Stimme. »Wir alle wollen Lucy natürlich an unserer Schule willkommen heißen und ihr einen herzlichen Empfang in Amerika bereiten. Aber wir schreiben nächste Woche einen Test. Schlagt also bitte Seite zweihunderteins auf, George Orwell …«
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Jenny hatte Lucy an der Schule abgesetzt und fuhr weiter zum Universitätsgelände. Sie musste wenigstens der Form halber ab und zu in ihrem Labor
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