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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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ausgestoßen hatten, als die alte Lucretia Zeus alle Finger von der einen Hand abgebissen hatte. Aber irgendwie war das hier noch anders. Der Geräuschpegel war zu niedrig. Aufregung ergriff sie, und ihr Pulsschlag |105| beschleunigte sich. Sie konnte das nicht einfach ignorieren. Irgendwem wurden da Schmerzen zugefügt.
    Ohne weiter nachzudenken, stieß Lucy die Doppeltür auf und stürmte in eine Halle, in der sich zwei ineinander verkeilte Jungen am Boden wälzten. Der eine verdrehte dem anderen gerade ein Bein, und der Junge schrie auf vor Schmerz. Die Leute, die um die beiden herum saßen und zusahen, johlten, brüllten und kreischten ausgelassen. Lucy ließ ihre Bücher fallen und eilte dem Unterlegenen zu Hilfe. Mit beiden Händen packte sie den Angreifer, hob ihn mühelos hoch und schleuderte ihn einfach weg. Dann streckte sie eine Hand aus, um dem Verwundeten auf die Beine zu helfen. »Alles in Ordnung? Alles in Ordnung?«, rief sie und dachte: Wie komisch, er blutet gar nicht.
    »Bist du bekloppt?«
    Lucy zuckte zurück. Der Junge hatte eine Art Schutzhelm auf dem Kopf und trug ein eng anliegendes hellrotes Trikot.
    Erst jetzt bemerkte Lucy, dass sich in der ganzen Halle Schweigen ausgebreitet hatte. Langsam begann ihr Verstand wieder in normalem Tempo zu arbeiten. Sie hörte den Jungen, den sie weggeschleudert hatte, dumpf stöhnen. Ein verblüffter und erschrockener Erwachsener mit etwas Glänzendem im Mund kam direkt auf sie zugelaufen. Lucy stellte sich innerlich schon auf einen Kampf mit ihm ein. Doch als die Luft aus seinen Wangen entwich, hörte sie nur einen schrillen Pfiff. Dann ließ er die Pfeife fallen und schrie: »Was zum Teufel fällt dir denn ein, Mädel! Wieso platzt du hier einfach rein und machst mir meinen Ringkampf kaputt?« Ganz langsam drehte Lucy sich einmal um sich selbst, um herauszufinden, was hier schiefgelaufen war. Eben noch war ihr doch alles so klar erschienen. Und jetzt das: Was taten all diese Leute hier? Warum kämpften diese beiden Jungen miteinander? Warum |106| hatten die Leute gejubelt, obwohl einem der Jungen Schmerzen zugefügt worden waren? Der Mann mit der Pfeife hatte »Ringkampf« gesagt. Meinte er etwa den Ringkampf aus der griechischen Antike, von dem sie gelesen hatte? Aber warum waren diese Jungen dann nicht nackt?
    Der Junge, den sie weggeschleudert hatte, war wieder auf den Beinen und wischte sich den Staub vom Trikot. Ihr Herz begann zu hämmern, als der Mann sie anbrüllte und die Zuschauer zu buhen und zu schimpfen anfingen. Lucy begriff, dass sie ein wichtiges Tabu dieser Gruppe verletzt hatte. Unkontrollierbare Panik stieg in ihr auf. Sie stürmte durch die Doppeltür hinaus und rannte, alle aus dem Weg schubsend, den Flur entlang davon. Draußen vor dem Hauptportal der Schule hielt sie einen Moment lang keuchend inne und überlegte, welche Richtung sie einschlagen sollte. Von der Straße her sah sie seltsam flackernde Lichter auf die Schule zukommen, und sie hörte das Geheul von Sirenen. Lucy wusste, das hieß, dass irgendetwas Schlimmes passiert war, und plötzlich begriff sie, dass sie ihretwegen kamen. Sie floh quer durch die Gärten der umliegenden Häuser, über alle Zäune, die ihr im Weg waren, hinwegspringend. Sie sah welkende Rosen, auf die verblassendes Sonnenlicht fiel, Eichhörnchen, die in kleinen Seitenstraßen auf Mülleimern herumflitzten. Und immer hatte sie das eigene stoßweise Keuchen im Ohr. In einem der Gärten, durch die sie rannte, sprang ein großer Hund mit gefletschten Zähnen auf sie zu, doch Lucy holte nur einmal kurz aus und schlug ihn mit dem Handrücken aus dem Weg. Sie rannte weiter, weiter und immer weiter, bis das mitleiderregende Jaulen des Hundes hinter ihr langsam verklang.

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    Jenny saß auf dem Stuhl links von Lucy. Der Beratungslehrer saß auf der anderen Seite, ein dünner, verhärmt aussehender Mann mit dicken Brillengläsern und einem fast kahlen Kopf. Das Büro der Schulpsychologin war kalt, und an der Decke brannten Neonröhren, die unaufhörlich summten und ein bläulich graues Licht verströmten.
    Den dreien gegenüber saß die Schulpsychologin, Dr.   Ruth Mayer, eine Frau Mitte fünfzig mit weichen Gesichtszügen und grauem Haar, das so fest zurückfrisiert war, dass es die Haut ihres Gesichts straffzuziehen schien. Sie saß hinter einem großen Behördenschreibtisch und tippte mit einem Bleistift auf einen Schnellhefter.
    »Dr.   Lowe, soviel ich weiß, hat Lucy erst vor kurzem ein

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