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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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wirklich die echten Gemälde ansehen?«
    Jenny lachte. »Ja, Schatz, das können wir. Und das werden wir. Aber morgen. Jetzt gehen wir erst mal ins Bett.« Einen Augenblick war sie drauf und dran, Lucy zu erklären, dass kein amerikanischer Teenager »Oh, du meine Güte« sagen würde, überlegte es sich aber noch einmal. In der Schule würde Lucy noch früh genug lernen, wie die Kids hier redeten.
     
    Der Vorortzug, in dem Jenny und Lucy gemächlich durch das Umland von Chicago gezuckelt waren, tauchte nach einiger Zeit plötzlich unter die Erde, beschleunigte und raste mit hoher Geschwindigkeit durch einen dunklen Tunnel, der nur von mattgelb vorüberflackernden Lichtern erleuchtet war. Dann legte er sich in eine langgezogene Kurve, so dass die metallenen Räder zu kreischen begannen, und Lucy kreischte mit. Die anderen Fahrgäste sahen sich alle nach ihr um, wandten dann aber betreten den Blick wieder ab und taten, als hätten sie nichts bemerkt.
    Jenny wusste zunächst nicht, ob Lucy unter dem Lärm litt oder Spaß daran hatte. Dann fuhr der Zug wieder geradeaus, das Kreischen hörte auf, und Lucy strahlte Jenny mit einem glückseligen Lächeln an. Was für ein wunderbares Mädchen sie doch war, dachte Jenny. Lächelnd blickten sie einander an, nicht fähig, etwas zu sagen, und Jenny sah Liebe in Lucys Augen leuchten. Einen Augenblick spürte sie, dass sie beide über das kommunizierten, was Lucy den Großen Strom nannte. |95| Wie könnte jemand bei Lucys Anblick auch nur einen einzigen Gedanken an ihr genetisches Profil verschwenden, fragte sie sich. Doch als Lucy sich abwandte und wieder aus dem Fenster blickte, sah Jenny ihr Gesicht in der Glasscheibe. Durch die Spiegelung waren Lucys Gesichtszüge leicht verzerrt, und deutlicher als je zuvor erkannte Jenny in diesem Abbild ihr animalisches Erbe. Ungute Vorahnungen stiegen in ihr auf, und sie schauderte.
    Als sie ausgestiegen waren und die Treppe aus dem Untergrund hinaufgingen, stockte Lucy der Atem beim Anblick der Innenstadt von Chicago. Die bis in den Himmel ragenden Bauten machten sie ganz schwindelig, und sie hielt sich an Jenny fest, legte den Kopf in den Nacken und drehte sich mit ihr im Kreis herum, um sie alle zu betrachten. Wie zwei Tänzerinnen in einem Musical wirbelten die beiden lachend um sich selbst, und die Leute wandten sich nach ihnen um.
    Nachdem sie auf der Michigan Avenue in einem tristen Behördenzimmer die Adoptionspapiere eingereicht hatten, überquerten sie die Michigan Avenue und gingen zum Kunstmuseum hinüber. Lucy näherte sich dem Gebäude mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund, so wie man sich vielleicht einer bedeutenden heiligen Kathedrale näherte. Jenny nahm sie beim Arm, als sie die Steinstufen hinaufstiegen. »Schatz, kein lautes Gekreische jetzt, okay?«
    »Okay. Ich versuch’s.«
    Als sie den großen Saal der Impressionisten betraten, wurde Lucy ganz still. Langsam drehte sie sich im Kreis herum und ließ den Blick über jede Leinwand schweifen. Jenny stand abwartend daneben. Dann flüsterte Lucy: »Die sind alle echt, oder?«
    »Ja. Die sind echt.«
    Mit anmutig fließenden Bewegungen ging Lucy durch den |96| Saal, von Bild zu Bild, immer wieder aufs Neue gespannt und immer wieder überwältigt stehen bleibend. Es war, als würde sie von jedem der Kunstwerke eine dringliche Botschaft erwarten   – und auch bekommen. Cézanne, Pissarro, Monet, Renoir, Degas, Gauguin   … Lucy umrundete den Saal einmal, dann begann sie von vorn, langsamer diesmal. Jenny setzte sich auf eine Bank in der Mitte des Raums und beobachtete sie. Lucy hatte so gar nichts von den ständig abgelenkten, herumalbernden Teenagern beim Schulausflug an sich, die Jenny hier im Museum schon gesehen hatte. Sie schien intensive Zwiesprache mit den Kunstwerken zu halten. Als Lucy den Saal ein zweites Mal umrundet hatte, kam sie fast auf Zehenspitzen zu Jenny gelaufen. Sie beugte sich vor, legte die Hände um den Mund und flüsterte, verlegen um sich blickend: »Diese, diese, diese   …«
    »Was denn, Schatz? Was ist los?«
    »Diese Gemälde. Es ist, als würden sie zu mir sprechen.«
    Dann eilte sie wieder quer durch den Saal davon und blieb vor Degas’
Tänzerinnen, ihre Schuhe bindend
stehen. Sie sah das Bild an, sah in das Bild hinein, eine ganze Weile, und plötzlich richtete sie sich auf, schlug die Hände vors Gesicht und begann leise zu weinen. Jenny ging zu Lucy hinüber, legte ihr den Arm um die Schulter und sah, dass Lucy selbst

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