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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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traumatisches Erlebnis gehabt. Angesichts der Art dieses Erlebnisses frage ich mich, ob sie nicht vielleicht unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet.«
    »Ja, das wäre möglich. Ich glaube es zwar eigentlich nicht, aber möglich wäre es.« Jenny konnte förmlich spüren, dass Dr.   Mayer eine Unheilstifterin übelster Sorte war.
    »Hat sie nach den Geschehnissen irgendeine Therapie gemacht?«
    »Nein.« Seit Jenny die Wahrheit über Lucy wusste, war es ihr unmöglich erschienen, sie zu einem Psychologen zu schicken.
    »Meinen Sie nicht, dass das ein Versäumnis Ihrerseits war?
Doktor
Lowe.« Jenny ahnte bereits, worauf das hinauslaufen |108| würde. Mit der Annahme, dass man auch ohne Psychotherapie leben konnte, hatte sie Dr.   Mayer in ihrer Berufsehre gekränkt.
    »Ich habe einen Doktor in Anthropologie, nicht in Medizin. Und Lucy hat nie Anzeichen seelischer Verstörung gezeigt. Ich halte diese ganze Angelegenheit nur für ein Missverständnis.«
    »Ein Missverständnis? Sie hat einen der besten Sportler der Schule angegriffen. Mir erschließt sich nicht, wie Sie da von einem Missverständnis sprechen können.«
    »Sie hatte vorher noch nie einen Ringkampf gesehen. Sie sah nur, wie ein Junge einen anderen angriff, und ist dem Unterlegenen zu Hilfe geeilt. Ganz instinktiv, wenn Sie so wollen.«
    »War es so, Lucy?«
    »Ja, Ma’am. So war es. Ich dachte, ich beende eine Schlägerei.«
    »Jede Kultur hat Sportarten, und in den meisten gehört dazu auch der Kampfsport. In welcher Art von Gesellschaft bist du denn aufgewachsen?«
    Jenny ergriff das Wort, um Lucy zu helfen. »Ihr Vater war Primatologe, und sie lebten in einem äußerst abgelegenen Teil der Demokratischen Republik Kongo im Urwald.«
    Das schien Dr.   Mayer erst einmal zum Schweigen zu bringen. Sie beäugte sie beide eine Weile argwöhnisch, ehe sie sich an den Beratungslehrer wandte. »Welche Erfahrungen haben Sie denn bislang mit Lucy gemacht, Mr.   Wicks?«
    »Ich habe sie nicht allzu oft gesehen«, erwiderte er, räusperte sich und nahm die Brille ab, um sie mit einem zerknüllten Papiertaschentuch zu putzen. »Sie hat den Aufnahmetest in den meisten Fächern überdurchschnittlich bestanden.«
    »In allen Fächern«, warf Jenny ein.
    »Sie hat nie gestört im Unterricht?«, fragte Dr.   Mayer.
    |109| »Soweit ich weiß, nein.«
    Dr.   Mayer blätterte in den Unterlagen des Schnellhefters. Dann rückte sie ihre Brille zurecht und sagte: »Nun, erfreulicherweise wurde der Junge nicht ernsthaft verletzt. Und von der Polizei habe ich erfahren, dass er keine Anzeige erstatten will.« Sie legte einen Finger an die Lippen und studierte noch einmal kurz die Unterlagen. »Ich bin bereit, dieses Vorkommnis dem Disziplinarausschuss als einen besonderen Fall vorzustellen und dafür zu plädieren, dass Lucy an der Schule bleiben darf. Aber ich werde darauf dringen, dass sie eine Psychotherapie macht, damit dergleichen nicht noch einmal vorkommt und sie alle Folgen ihres traumatischen Erlebnisses verarbeiten kann. Sind damit alle einverstanden? Dr.   Lowe?«
    »Ja, gut.« Jenny wusste, das hieß, dass Dr.   Mayer sich Lucy noch einmal allein vorknöpfen wollte. Aber sie sah keinen Ausweg.
    »Mr.   Wicks?«
    »Ja, das klingt vernünftig.«
    »Lucy?«
    »Ich tue das, was meine Mutter richtig findet.«
    Jenny blieb fast die Luft weg, als Lucy von ihr als ihrer Mutter sprach. War Lucy raffiniert genug, das um der Wirkung willen zu sagen, fragte Jenny sich, oder meinte sie es wirklich ernst? Sie spürte, wie ihre Anspannung nachließ.
    »Sehr schön. Dann betrachte ich die Angelegenheit als erledigt, wenn keine weiteren Probleme auftauchen.« Und als sie aufstanden, um zu gehen, fügte Dr.   Mayer noch hinzu: »Oh, und ich muss auch darauf bestehen, dass Lucy gründlich von einem qualifizierten Arzt untersucht wird.«
    »Ist das wirklich nötig? Sie wurde nach ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten ärztlich untersucht und bekam einen Gesundheitsnachweis für die Schule ausgestellt.«
    |110| »Wir würden uns gern von unserem eigenen Arzt bestätigen lassen, dass nicht irgendein verborgener Umstand übersehen wurde. Gewalttätiges Verhalten gehört nicht in das normale Verhaltensrepertoire einer Patientin.« Jenny fiel auf, dass Lucy im Handumdrehen von einer Schülerin zu einer Patientin geworden war. »Sie hat in einem Teil der Welt gelebt, in dem exotische Krankheiten gedeihen. Parasiten. Lucy ist sicher völlig gesund, aber es wäre

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