Lucy
beim Weinen noch durch ihre Finger auf das Bild spähte.
»Alles okay?«
»Ja, ja. Oh, ja. Alles ist so wunderschön. Es ist nur etwas zu viel auf einmal, das ist alles. Ich glaube, ich brauche einfach ein bisschen mehr Zeit. Danke, dass du mir dieses wunderbare Geschenk gemacht hast. Aber könnten wir noch mal herkommen? Ja, Jenny? Bitte!«
»Natürlich können wir das.«
|97| 9
Die Schule begann an einem kalten, nieseligen Tag. Lucys Aufnahmetest war in allen Fächern so gut ausgefallen, dass sie eigentlich gar nicht mehr zur Schule hätte gehen müssen. Ihr Vater hatte erwartet, dass sie in London gleich das College besuchen würde. Doch an der Highschool schlug man vor, Lucy aufgrund ihrer ungewöhnlichen Lebensumstände dennoch in die Abschlussklasse einzuschulen. Das werde ihr Zeit geben, sagten die Lehrer, sich an alles zu gewöhnen.
Lucy hatte sich vor den vielen Schülern und dem Lärm gefürchtet, stellte aber überrascht fest, dass es aufregend und unglaublich faszinierend war, von Mitschülern umgeben in einem großen Klassenzimmer zu sitzen. Noch nie war sie mit so vielen anderen auf so engem Raum zusammen gewesen. Sie fand es seltsam und anfangs auch wunderbar, unter all diesen zerbrechlichen, zierlichen Geschöpfen zu sitzen, so dicht gedrängt in einem Klassenzimmer, dass es schien, als könnten sie jeden Moment die kritische Masse erreichen und reine Energie freisetzen.
Die gekachelten Flure des Gebäudes hallten wider von Rufen und Schreien, und als sich Lucy zwischen den Unterrichtsstunden einen Weg durch die Menge bahnte, dachte sie unwillkürlich, dass das alles in mancher Hinsicht doch sehr dem Urwald glich: das Gekreische und Geschrei und das ständige Hin und Her. Die Schüler hier wetteiferten auf genau dieselbe Art und Weise um einen guten Rang in der Hierarchie und wollten ihren Status demonstrieren. Lucy sah, wie die |98| Mädchen mit dem höchsten Status ganz vorn beim Eingang der Cafeteria Hof hielten und sich dabei immer wieder mit kleinen Gesten gegenseitig berührten. Sie ließen sich von einigen bevorzugten Jungs etwas an den Tisch bringen, die braun gebrannt und sportlich waren und sich in die Brust warfen, um größer zu wirken. Diese Jungen und Mädchen mit dem höchsten Status zogen die meisten Blicke auf sich, während alle, die in der Hierarchie unter ihnen standen, sich mit hängenden Schultern um sie herumdrückten oder vorsichtig von ihnen fernhielten.
Lucy nahm jeden einzelnen Geruch wahr, als sie den Flur entlang zum nächsten Klassenzimmer ging: die ganze Palette an Chemikalien, die hier seit Jahrzehnten versprüht wurden; den allgegenwärtigen Geruch der Weichmacher im Plastik; den stechenden Duft der Aluminiumsalze in den Deodorants, die alle benutzten; die eklig süßlichen Rasierwasser, Parfüms und all die unzähligen Lotionen und Tinkturen für Haut und Haar, deren flüchtige Bestandteile an ihr vorüberwehten, während sie durch diese Chemie-Suppe schwamm.
Als Lucy im Klassenzimmer saß, staunte sie, in welchem Ausmaß um sie herum kommuniziert wurde. Hier war sie umgeben von Geschöpfen, die sich wie sie selbst völlig zu Hause fühlten im Großen Strom, zu dem die Erwachsenen den Zugang verloren zu haben schienen. Die Schüler agierten alle auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig, so als sei jeder einzelne von ihnen zwei oder sogar drei Personen zugleich. Eine hörte dem Lehrer zu und folgte dem Unterrichtsthema. (Oder auch nicht.) Eine andere warf sich demonstrativ in Pose, um den Mitschülern zu zeigen, wie wichtig sie war. Und wieder eine andere sandte Botschaften quer durch den Raum. Genau so wurde es im Urwald gemacht.
Dana – so hieß das Mädchen, das links vor Lucy saß – teilte |99| Jonah, einem schwarzhaarigen Jungen, gerade mit, wie verliebt sie in ihn war. Quinn signalisierte dem Lehrer, dass er seine Hausaufgaben nicht gemacht habe. Jonah versuchte, Dana zu ignorieren, und verständigte sich gleichzeitig kichernd mit seinem Freund Dan darüber, ob sie nach der Schule noch irgendwo hingehen und etwas unternehmen wollten. Blicke, Körpersprache, Mienenspiel, hier fanden eine Million Gespräche auf einmal statt. Wie lautlose Blitze zuckten sie durch das Klassenzimmer, und sehr oft ging es dabei um Freundschaft und Paarung. Lucy konnte zwar nicht allem folgen, aber schon allein der Versuch machte ihr Spaß.
Doch nach ein paar Tagen hatte sich der Reiz des Neuen verloren. Und als Lucy so dasaß, während im Hintergrund der Lehrer monoton
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